Erstmals in der Grundsatzentscheidung zu aussagepsychologischen Gutachten hat der BGH den aus der Experimentalpsychologie herrührenden Begriff der „Nullhypothese“ übernommen. Es geht um die wissenschaftlichen Anforderungen, die an die Glaubhaftigkeitsbegutachtung zu stellen sind.
Den Begriff „Nullhypothese“[17] hat der BGH auch in den Nachfolgeentscheidungen zu der Grundsatzentscheidung verwendet. Erläutert wird der Begriff in der Grundsatzentscheidung[18]. Danach hat der Sachverständige zunächst davon auszugehen, dass die Aussage keinen Erlebnisbezug hat. Hierzu hat er Spezifizierungen[19] zu bilden. Nur wenn er diese zurückweisen kann, gilt das Gegenteil: die Aussage hat einen Erlebnisbezug.
Zum hypothesengeleiteten Vorgehen des Sachverständigen finden sich folgende BGH-Entscheidungen:
• BGH [5 StR 538/08][20] | Einseitige Hypothesenbildung durch Sachverständigen |
• BGH [1 StR 579/05][21] | Spezifizierung der Nullhypothese: Pseudoerinnerung |
• BGH [5 StR 470/07] | Spezifizierung der Nullhypothese: sexuelle Kenntnis aus anderer Situation |
• BGH [3 StR 301/07] | Nur die realistischen Hypothesen berücksichtigen |
• BGH [5 StR 416/05] | Unglaubhaftigkeitshypothese |
• BGH [3 StR 464/04][22] | Nur die realistischen Hypothesen berücksichtigen |
• BGH [5 StR 544/04] | Nullhypothese zur Aussagetüchtigkeit |
• BGH [1 StR 274/02][23] | Geprüfte Hypothesen sind im Urteil zu benennen |
• BGH [1 StR 524/02][24] | Erklärungsmöglichkeiten, Hypothesen, sind zu diskutieren |
• BGH [1 StR 582/99][25] | Allgemein |
• BGH [1 StR 618/98][26] | Grundsatzentscheidung |
Teil 1 Zeugenaussage › III › 4. BGH-Rechtsprechung zur Beurteilung der Aussagekompetenz
4. BGH-Rechtsprechung zur Beurteilung der Aussagekompetenz
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Aussagekompetenz – Beurteilung
ist
Teil der Glaubhaftigkeitsbeurteilung
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Die Aussagekompetenz ist im unmittelbaren Zusammenhang mit der Aussageanalyse zu prüfen. Üblicherweise – und so in § 241 Abs. 2 StPO geregelt – ist der Zeuge (nur) zur Sache zu vernehmen. Vorgelagerte allgemeine routinemäßige Fragestellungen zur Zeugentüchtigkeit sieht die StPO nicht vor, so z. B. nicht die Prüfung der sprachlichen Fähigkeiten des Zeugen. Die Einschätzung, wie sich der Zeuge im Allgemeinen äußert, wie groß sein Wortschatz ist, ob er allgemein – und deshalb auch in der Befragung – eher wenig spricht, ob er sich nur knapp oder ausschweifend äußert, kann für die Beurteilung seiner Aussage aber von Bedeutung sein.
Aussagetüchtigkeitsaspekte finden in der BGH-Rechtsprechung bei kindlichen Zeugen Berücksichtigung. Die Aussagekompetenz erwachsener Zeugen wird in der BGH-Rechtsprechung vor allem bei psychischen Auffälligkeiten, bei Erinnerungsbeeinträchtigung und bei Beschuldigtenaussagen im Zusammenhang mit Alkoholisierung diskutiert.
Die Beurteilung der Qualität einer Aussage gewinnt erst an Aussagekraft durch ihren Bezug zu den spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen des Aussagenden.
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Beurteilung der Aussagequalität
erfolgt
nur im Zusammenhang mit den Kompetenzen und den Erfahrungen des Zeugen
Dies erfordert die Feststellung und Beurteilung etwaiger aussagerelevanter Besonderheiten in der Persönlichkeitsentwicklung des Zeugen, bevor die Qualitätsanalyse der Aussage vorgenommen wird. Liegen beim Zeugen Einflüsse vor, die die Zeugentüchtigkeit beeinträchtigen, oder sind besondere Erfahrungen oder Erlebnisse vorhanden, so muss im Einzelfall vorab geprüft werden, ob möglicherweise die Zeugentüchtigkeit eingeschränkt ist oder ob z. B. die vorgefundene Aussagequalität durch sogenannte Parallelerlebnisse[27] beeinträchtigt oder durch reine Erfindung[28] erklärbar sein könnte[29]. Dies ist insbesondere dann geboten, wenn die Auffälligkeiten einen solchen Schweregrad erreichen, dass sie geeignet sind, die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Zeugen zu beeinträchtigen. Erst vor diesem Hintergrund kann die Frage beantwortet werden, ob der Zeuge die Aussage mit den darin festgestellten Qualitätsmerkmalen möglicherweise ganz oder teilweise ausgedacht oder von einem Erlebnis mit einer anderen Person auf den Beschuldigten übertragen haben könnte.
a) Aussagekompetenz bei kindlichen Zeugen
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Bei kindlichen Zeugen stellt sich die Frage nach der Aussagekompetenz anders als bei Erwachsenen.
Bei kleinen Kindern richtet sich die Frage, ob sie eine verwertbare Aussage machen können, nach ihrem Entwicklungsstand. Suggestionseffekte können – gerade bei jüngeren Kindern – den Inhalt der Aussage wesentlich verändern. Bei der Beurteilung kindlicher Angaben spielt es auch eine Rolle, ob das Kind schon über ein eigenes bereichsspezifisches Wissen verfügt.
Mit der Aussagekompetenz von kindlichen Zeugen befassen sich z. B. folgende Entscheidungen des BGH:
• BGH [3 StR 281/07] | Suggestion, Befragung |
• BGH [4 StR 23/07] | Fantasiebegabung |
• BGH [1 StR 579/05][30] | Suggestion, Pseudoerinnerung |
• BGH [2 StR 534/02][31] | Suggestion |
• BGH [1 StR 40/02][32] | Intensive gedankliche Befassung mit fiktiven Geschehnissen und bestätigende Gespräche, narzisstische Selbstdarstellung, therapieinduzierte Suggestion |
• BGH [5 StR 209/00][33] | Suggestion |
• BGH [1 StR 183/00][34] | Suggestion |