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Ein echter Konflikt zwischen griechischem Verfassungsrecht und primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht resultierte aus presserechtlichen Aspekten der Revision des Jahres 2001: In Art. 14 Verf. (Pressefreiheit) wurden einige neue Bestimmungen aufgenommen, die Unternehmen, die mit griechischen Medienunternehmen „verbunden“ sind, von der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen ausschließen. Im neuen Abs. 9 wird nämlich bestimmt, dass „[d]ie Eigenschaft des Eigentümers, des Gesellschafters, des Hauptaktionärs oder des leitenden Angestellten eines Massenmedienunternehmens [...] unvereinbar [ist] mit der Eigenschaft des Eigentümers, des Gesellschafters, des Hauptaktionärs oder des leitenden Angestellten eines Unternehmens“, „welches gegenüber dem Staat oder einer juristischen Person des weiteren öffentlichen Sektors die Ausführung von Vorhaben oder Lieferungen oder die Leistung von Diensten übernimmt“ (Satz 5). „Das Verbot des vorigen Satzes umfasst auch eingeschaltete Personen aller Art, wie Ehegatten, Verwandte, finanziell abhängige Personen oder Gesellschaften“ (Satz 6). Schließlich ist vorgesehen, dass ein Gesetz „die besonderen Regelungen, die Sanktionen, die bis zur Aufhebung der Lizenz des Hörfunk- oder Fernsehsenders und bis zum Abschlussverbot oder zur Annullierung des betreffenden Vertrags reichen können, sowie auch die Arten der Kontrolle und der Garantien zur Verhütung der Umgehung der vorigen Sätze“ bestimmt (Satz 7).
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Die EU-Kommission hat diese Verfassungsbestimmungen und die entsprechenden Durchführungsgesetze – sowohl der früheren PASOK-Regierung (G. 3021/2002) als auch der amtierenden N.D.-Regierung (G. 3310/2005) – beanstandet und die griechische Regierung aufgefordert, das Gesetz 3310/2005 bzw. das nach seiner Aussetzung wieder in Kraft getretene (alte) Gesetz 3021/2002 zu ändern.[60] Die Kommission hat in den fraglichen Regelungen einen Verstoß gegen das gemeinschaftliche Vergaberecht und den Grundsatz der Gleichbehandlung gesehen und damit gegen fast alle Grundfreiheiten. Die Lehre ist in diesem Fall, der unter dem Stichwort „Hauptaktionär“ bekannt ist und sich fast zu einer „nationalen“ Frage entwickelt hat, gespalten. Während ein Teil auf die Unvereinbarkeit der fraglichen Verfassungsbestimmungen und der Ausführungsgesetze mit dem Gemeinschaftsrecht hinweist und sich für den Vorrang des letzteren ausspricht,[61] äußern sich andere[62] zugunsten des – auch von der Regierung[63] vertretenen – Vorrangs der Verfassung. Die Rechtsprechung hat diese Fragen noch nicht entschieden. Ein Rechtsstreit über die Vereinbarkeit einiger Bestimmungen des ursprünglichen Gesetzes 3021/2002 mit Art. 14 Abs. 9 Verf. und dem Gemeinschaftsrecht ist vor dem Plenum des Staatsrats, an das die Sache wegen ihrer Wichtigkeit von der Vierten Kammer verwiesen wurde, noch anhängig; die Kammer hat sich allerdings für den Vorrang der Verfassung ausgesprochen.[64] Inzwischen hat die Regierung – unter dem Druck der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens und möglicher Sanktionen – nach Verhandlungen mit der Kommission ein Änderungsgesetz (Gesetz 3414/2005) erlassen, das die Anwendung der fraglichen Verfassungsbestimmungen im Ergebnis aufhebt.
c) Die Vorrangsfrage
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Schließlich muss in diesem Zusammenhang auch die Vorrangsfrage angesprochen werden. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts speziell gegenüber der nationalen Verfassung bzw. seine Begründung ist ein bis heute offenes Thema,[65] auch wenn Rechtsprechung und Lehre Lösungswege beschritten haben, die in der Regel ein harmonisches Nebeneinander von Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung ermöglicht haben.[66]
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Während einige Instanzgerichte nicht gezögert haben, dem Gemeinschaftsrecht einen Vorrang auch gegenüber der Verfassung zuzusprechen,[67] weigern sich die höchsten Gerichte, diesen Vorrang gegenüber der Verfassung anzuerkennen und suchen andere Wege, um die vollständige Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen bzw. Konflikte zu vermeiden. So sind etwa das Plenum und die Große Kammer des griechischen Staatsrats den zwei Versuchen der Vierten Kammer,[68] dem Gemeinschaftsrecht ausdrücklich Vorrang gegenüber der Verfassung einzuräumen, entgegengetreten. Im ersten Fall hat das Plenum entschieden, dass kein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht vorliege,[69] und im zweiten Fall hat die Große Kammer die fragliche Maßnahme als außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts liegend betrachtet.[70] Umgekehrt ist aber das Plenum des Staatsrats auch dem Versuch der Sechsten Kammer[71] entgegengetreten, einen Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht explizit anzuerkennen. Auch in diesem Fall hat es sich hinsichtlich der Vorrangsfrage nicht geäußert. Interessant ist allerdings, dass sich der Staatsrat im letzteren Fall auch geweigert hat, die Sache dem EuGH vorzulegen, obwohl sich eine nicht unbedeutsame Zahl seiner Mitglieder im Plenum (11 von insgesamt 27 Richtern) dafür ausgesprochen hatte.[72] Einen neuen Anlauf, den Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anzuerkennen, hat neuerdings die Vierte Kammer des Staatsrates in ihrer erweiterten Zusammensetzung (Große Kammer) unternommen. In dem oben erwähnten Kollisionsfall zwischen der medienrechtlichen Verfassungsbestimmung des Art. 14 Abs. 9 Verf. und Regelungen des Primär- und Sekundärrechts hat sich die Kammer mehrheitlich zugunsten des Vorrangs der griechischen Verfassung ausgesprochen. Dabei handelt es sich allerdings um eine „Solange-Entscheidung“. Der Vorrang der Verfassung gelte „zumindest im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des Gemeinschaftsrechts und solange ein europäischer Verfassungstext als übergeordnete Norm nicht gesetzt wird, der die Mitgliedstaaten daran bindet, ihre Verfassungen insoweit zu ändern, als sie zu diesem in Widerspruch stehen“[73]. Es bleibt abzuwarten, inwieweit das Plenum des Staatsrats diesem weitgehenden Vorbehalt zustimmen wird und insbesondere ob das Gericht diesmal zum Verhältnis zwischen der griechischen Verfassung und dem Gemeinschaftsrecht eine klare Stellung nehmen wird.
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Auch die Meinungen des Schrifttums sind geteilt. Der Vorrang der Verfassung gegenüber dem Gemeinschaftsrecht wurde gelegentlich von einem Teil des älteren Schrifttums vertreten.[74] Naturgemäß spricht sich das europarechtliche Schrifttum ohne weiteres, und zwar meistens mit derselben Argumentation wie der EuGH, für den uneingeschränkten Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber der Verfassung aus.[75] Demgegenüber bemüht sich das staatsrechtliche Schrifttum, die Vorrangsfrage anhand der Verfassung zu beantworten und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung verfassungsrechtlich zu begründen bzw. zu legitimieren. Außer der europarechtskonformen Auslegung der Verfassung, die allerdings den Vorrang nur im Ergebnis einräumt bzw. Konflikte zwischen dem Gemeinschafts-/Unionsrecht und der griechischen Verfassung zu vermeiden sucht, bemüht sich ein Teil des Schrifttums darum, die Vorschriften des Art. 28 Verf. und zwar insbesondere dessen Abs. 2 und 3 für die Begründung bzw. Legitimierung des Vorrangs des Gemeinschafts-/Unionsrechts auch gegenüber kollidierenden Verfassungsbestimmungen fruchtbar zu machen. So werden diese als Klauseln für eine speziell den Bereich der europäischen Integration betreffende stillschweigende Verfassungsänderung angesehen,[76] oder es wird ihnen eine (neue) Funktion, die so genannte „Integrationsfunktion“, zuerkannt.[77] Wie auch immer man zur Frage des Vorrangs stehen mag – will man die Situation pragmatisch beurteilen, dann muss man eingestehen, dass sich durch die Entwicklung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch in Griechenland eine stillschweigende Verfassungsänderung vollzieht.
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Angesichts zum einen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die sich bis heute weigert, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung anzuerkennen, und der Verfassung gelegentlich sogar ausdrücklich den Vorrang zuerkennt, zum anderen der diesen Vorrang vertretenden Lehre, insbesondere aber unter Berücksichtigung der Einstellung der Mehrheit der Politiker, die ihrerseits ausdrücklich für den Vorrang der Verfassung plädieren, scheint es bemerkenswert, dass bei den Parlamentsdebatten über das Ratifikationsgesetz die Frage der Vereinbarkeit des Art. I-6 VVE mit der griechischen Verfassung als solche kaum Gegenstand von Auseinandersetzungen war. Dies überrascht umso mehr, als sich einige Abgeordnete, darunter auch einige der Regierungspartei N.D., für den Vorrang der Verfassung gegenüber dem VVE ausgesprochen haben, gleichwohl teilweise