36. Zivilrechtswissenschaft
Zunächst hatten Kenntnis und Interpretation des Rechts in der Hand der Priester gelegen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. wurde die Rechtskunde allgemein zugänglich und es erschienen erste juristische Werke. Als wichtigste Phase der römischen Rechtswissenschaft (klassische Periode) gilt die Zeit des Prinzipats (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). Thematisch stand dabei das Zivilrecht im Zentrum.
Begriffliches: Dies spiegelt auch die Bezeichnung „Corpus iuris civilis“ (s. Rn. 33) wider, die wörtlich übersetzt „Werk des Zivilrechts“ bedeutet. Der Ausdruck Zivilrecht kennzeichnet dabei denjenigen Rechtsbereich, bei dem es um Rechte von bzw. Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen geht. Damit erfolgt eine Abgrenzung zu dem Rechtsbereich, der den Staat betrifft (ius publicum: öffentliches Recht). An Stelle des Begriffs „Zivilrecht“ wird heute meist gleichbedeutend auch der Terminus Privatrecht verwendet. Im 19. Jahrhundert war zudem der Ausdruck Bürgerliches Recht gebräuchlich (vgl. etwa den Gesetzestitel „Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch“ in Österreich 1812). Diese Bezeichnung stellt eine wörtliche Übersetzung von „ius civile“ dar (civis: „Bürger“). Allerdings wurde der Ausdruck „ius civile“ im römischen Recht auch noch in einem engen Sinn verwendet, wobei er nur das Recht derjenigen Personen bezeichnete, die das römische Bürgerrecht hatten (s. Rn. 44).
37. Literaturtypen
Verfasser juristischer Publikationen waren häufig in der Praxis tätig. Etliche hatten leitende Stellen in der Staatsverwaltung inne oder fungierten als Berater etwa des Herrschers oder der Prätoren. Ein wichtiges Betätigungsfeld bildete zudem die Erteilung von Gutachten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten. Diese Gutachten wurden teilweise publiziert. Daneben verfassten Juristen vor allem Gesamtdarstellungen des Zivilrechts sowie Kommentare, die entweder einzelne Gesetze, das Edikt des Prätors oder Bücher anderer Juristen erläuterten. Auch in derartigen Werken stand die Lösung von – praktischen oder erdachten – Einzelfällen im Zentrum. Etwa seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. widmeten sich Rechtswissenschaftler zudem der Ausarbeitung von Anfängerlehrbüchern für den Rechtsunterricht.
Die Anfängerlehrbücher (sog. Institutionen) deuten auf eine Veränderung bei der Juristenausbildung hin. Zunächst hatte der Rechtsunterricht im privaten Rahmen stattgefunden, wobei Schüler die Gutachten ihres Lehrers anhörten und erörterten. Rechtsschulen gab es nur im Sinne der Anhängerschaft zu einem bestimmten Juristen und dessen Lehren. Demgegenüber wurden in der späten Kaiserzeit staatliche Rechtsschulen gegründet. Solche Schulen gab es vor allem in Berytos (Beirut) und Konstantinopel. Deren Professoren waren auch an der Ausarbeitung des Corpus iuris civilis beteiligt.
38. Juristenrecht
Den Juristenschriften kam eine besondere Bedeutung zu. Anders als die heutige rechtswissenschaftliche Literatur galten sie als Rechtsquelle. Rechtswissenschaftliche Werke wurden als geltendes Recht angesehen und konnten daher als Grundlage für die Entscheidung eines Rechtsstreits dienen. Die Juristen legten somit nicht nur bestehendes Recht aus, sondern ihnen wurde auch die Kompetenz zuerkannt, Rechtssätze zu schaffen. Ein solches Juristenrecht gründete sich auf die Autorität der Rechtswissenschaftler. Besondere Bedeutung erlangten die Ansichten derjenigen Juristen, die vom Kaiser die Befugnis erhalten hatten, Gutachten mit kaiserlicher Autorität zu erteilen (sog. ius respondendi: Recht zur Gutachtenerteilung). Dieses Privileg wurde als Ermächtigung zur Rechtsfortbildung interpretiert:
Corpus iuris civilis, Institutionen 1, 2, 8:
Responsa prudentium sunt sententiae et opiniones eorum, quibus permissum erat iura condere. (…) Quorum omnium sententiae et opiniones eam auctoritatem tenent, ut iudici recedere a responso eorum non liceat, ut est constitutum.
Gutachten der Rechtsgelehrten sind die Auffassungen und Meinungen der Juristen, denen gestattet war, das Recht fortzubilden. (…) Ihrer aller Auffassungen und Meinungen haben einen solchen Rang, dass der Richter, wie durch eine Konstitution bestimmt ist, von ihren Gutachten nicht abweichen darf.
Der Rechtsquellencharakter der Juristenschriften führte zunehmend zu Rechtsunsicherheiten. Dazu trug neben dem Fehlen einer amtlichen Überlieferung auch der Umstand bei, dass die einzelnen Juristen in ihren Werken teilweise unterschiedliche Ansichten zu derselben Rechtsfrage äußerten. Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. erließen die Kaiser daher Gesetze, wonach nur noch bestimmte rechtswissenschaftliche Publikationen von den Gerichten berücksichtigt werden durften (sog. Zitiergesetze). Außerdem wurde festgelegt, dass bei Meinungsverschiedenheiten die Ansicht der Mehrheit ausschlaggebend sein sollte.
Ab Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. verloren die Juristenschriften an Bedeutung, da Rechtsfortbildungen seitdem primär durch Entscheidungen der Kaiser erfolgten. Außerdem ging in der Rechtswissenschaft, wie in den kaiserlichen Rechtsetzungen, zunehmend das Verständnis für Begrifflichkeiten und Differenzierungen der klassischen Zeit verloren und Publikationen waren durch vulgarrechtliche Tendenzen (s. Rn. 26) gekennzeichnet.
39. Überlieferung
Die rechtswissenschaftlichen Werke der römischen Juristen sind nur bruchstückhaft überliefert. Zentrale Quelle für die heutige Kenntnis sind die Digesten, welche Auszüge aus Juristenschriften enthalten. Allerdings entsprechen die Texte nicht immer dem Originalwortlaut, wie die Beschreibung der Arbeitsweise der Kompilatoren (s. Rn. 33) deutlich macht:
Corpus iuris civilis, Digesten, Constitutio Tanta (Konstitution Justinians vom 16. Dezember 533):
1. (…) Postea vero maximum opus adgredientes ipsa vetustatis studiosissima opera iam paene confusa et dissoluta eidem viro excelso permisimus tam colligere quam certo moderamini tradere. Sed cum omnia percontabamur, a praefato viro excelso suggestum est duo paene milia librorum esse conscripta et plus quam trecenties decem milia versuum a veteribus effusa, quae necesse esset omnia et legere et perscrutari et ex his si quid optimum fuisset eligere. (…)
10. (…) Hoc tantummodo a nobis effecto, ut, si quid in legibus eorum vel supervacuum vel inperfectum vel minus idoneum visum est, vel adiectionem vel deminutionem necessariam accipiat et rectissimis tradatur regulis.
1. Dann haben Wir das eigentlich große Werk in Angriff genommen und demselben unvergleichlichen Mann [Tribonian, Vorsitzender der Gesetzgebungskommission] die Aufgabe anvertraut, auch die höchst gelehrten rechtswissenschaftlichen Werke der Vergangenheit, die schon fast ganz in Wirrnis und Auflösung geraten waren, zu sammeln und einer bestimmten Ordnung zu unterwerfen. Als wir uns aber nach allen Einzelheiten erkundigten, bedeutete uns der erwähnte unvergleichliche Mann, dass die Rechtsliteratur fast zweitausend Bücher umfasse und von den alten Juristen insgesamt mehr als drei Millionen Zeilen verfasst worden seien; es sei vonnöten, diese alle zu lesen und auch zu prüfen und aus ihnen auszuwählen, was sich als das Beste erweise.
10. Lediglich eines ist von uns bewirkt worden: Erschien in ihren Rechtssätzen [der Rechtsgelehrten] etwas überflüssig oder unvollkommen oder weniger brauchbar, so wurden diese in der erforderlichen Weise ergänzt oder gekürzt und in die sachgerechteste Form gebracht.
Die Digesten geben zu Beginn jeder Passage den Namen des Autors sowie den Titel desjenigen Werks an, aus dem der Text entnommen wurde. Der größte Teil stammt aus Publikationen von den Juristen Ulpian und Paulus. Beide waren gegen Ende der klassischen Periode (3. Jahrhundert n. Chr.) bestrebt, eine Übersicht über den umfangreichen Rechtsstoff zu geben.
Nur ganz wenige Werke sind außerhalb des Corpus iuris civilis überliefert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Justinian den Digesten Gesetzeskraft verlieh und einen Rückgriff auf die Quellen und