Am Anfang und am Ende der Geschichte des römischen Rechts steht also ein bedeutendes Gesetz, das Zwölftafelgesetz und das höchst erfolgreiche Unternehmen des Kaisers Justinian, sich der literarischen Hinterlassenschaft der klassischen Juristen in Form einer „Kodifikation“ zu bemächtigen. Der Begriff der Kodifikation könnte freilich zu Missverständnissen führen, er bedarf der Präzisierung. Unter Kodifikation versteht man die umfassende Regelung eines Teilbereichs der Rechtsordnung durch Gesetzgebung. So ist etwa das BGB eine Kodifikation des Privatrechts, das StGB eine Kodifikation des Strafrechts. Kodifizierte Rechtsordnungen beruhen auf der Prämisse, dass ein staatlicher Gesetzgeber imstande ist, zuverlässige Prognosen über die Entscheidung künftiger Fälle zu erteilen. Deshalb werden feste Regeln vorgeschrieben, die bei Eintritt des prognostizierten Ereignisses (nachträglich) anzuwenden sind. Nach einem solchen Selbstverständnis kleidet sich die juristische Entscheidung in das logische Schema eines Schlusses, mit dessen Hilfe der Rechtsanwender ein tatsächliches Geschehen unter den Wortlaut des Gesetzes bringt. Rechtsfortbildende oder gar rechtsschöpferische Kompetenzen räumt dieses Modell dem Juristen, wenn überhaupt, in höchst unterschiedlichem Maße ein.
Mit dem Kommentierungsverbot stellt Justinian sicher, dass nur sein Rechtsgebot gilt. Eine Rechtsbildung durch Rechtsprechung oder Wissenschaft wird dadurch ausgeschlossen. Zwei der Gründe, warum die Juristen zum bloßen Gesetzesbüttel herabgewürdigt werden sollen, sind bereits genannt worden: Justinian glaubt, durch seine Kodifikation alle Widersprüche beseitigt und damit ein Maß an Konsistenz und Klarheit erreicht zu haben, das eine Kommentierung entbehrlich macht (S. 111). Außerdem geht es ihm darum, eine vorgegebene Rechtsordnung zu schützen (S. 113). Hinzu kommt der Wunsch nach Sicherung der Bürger vor richterlicher Willkür und Machtmissbrauch (Constitutio Tanta, 17). Dies lässt auf Gemeinsamkeiten mit Regelungen der Neuzeit schließen, [<<114] deren Bedeutung aber nicht zu überschätzen ist: Auch in der Neuzeit haben absolute Monarchen immer wieder Versuche unternommen, die Stellung der Juristen durch Auslegungs- und Kommentierungsverbote zu beschränken. Hatte der Richter einen Fall zu beurteilen, für den das Gesetz keine eindeutige Regelung vorsah, musste er bei den Legislatoren um Rat fragen (référé législatif). Berühmtes Beispiel aus der Neuzeit ist das Kommentierungsverbot des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 (S. 285). Die negative Einstellung des ALR zur richterlichen Rechtsschöpfung hat sich zwar weder im französischen Code civil von 1804 (13. Kapitel 3, S. 287.) noch im Österreichischen ABGB von 1811 (13. Kapitel 4, S. 291.) durchsetzen können. Doch ist in der Entstehungsphase dieser beiden Kodifikationen ein Verbot der Kommentierung ebenfalls gefordert worden. So heißt es etwa im ersten Entwurf zum Österreichischen ABGB, dem Codex Theresianus von 1766 (13. Kapitel 4, S. 291.):
„Wir verbieten auch allen Richtern, unter dem nichtigen Vorwand einer von der Schärfe der Rechten unterschiedenen Billigkeit von der klaren Vorschrift Unserer Gesetze im Mindesten abzugehen.“
Napoleon soll, als ihm der erste, aus der Feder von Maleville stammende Kommentar des Code civil präsentiert wurde, ausgerufen haben: „Mon Code est perdu“! Im Unterschied zum Absolutismus der Neuzeit betrachtet Justinian die Rechtsordnung nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer freien Verfügbarkeit. Er begreift sich nicht als sinnstiftender Herrscher und Gesetzgeber, der durch seine Befehle eine Rechtsordnung erst herstellt, sondern als Herrscher einer Rechtsordnung, die am Anfang der römischen Geschichte von göttlichem Geist geschaffen und ihm zur Bewahrung und zum Schutz vor den Juristen anvertraut wurde (Behrends). Auch heute gibt es im Übrigen noch Regelungen, in denen der Gesetzgeber durch Interpretationsbeschränkungen einer Konfiskation des Rechts von Seiten der Juristen entgegenwirken möchte (s. die Beiträge von P. Buck-Heeb und D. Großekathöfer im Literaturverzeichnis).
Mit dem Verbot von Auslegung und Kommentierung verbindet sich der Wunsch, dass niemand zwischen den Gesetzgeber und sein Gesetz treten soll. Doch ist das Gesetz einmal in Kraft, so beginnt es, ein Eigenleben zu entfalten. Schon seit langem weiß man, dass Gesetze „klüger sein [<<115] können als ihre Urheber“, und dass der Interpret sie möglicherweise „besser versteht“ als ihre Verfasser (dazu näher Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, 106). Seit alters wird behauptet, dass Kommentare Gesetze töten würden. Der Kommentar bedroht vor allem die Verständlichkeit des Rechts. Hier liegt vielleicht ein weiteres Motiv dafür, dass Justinian die Juristen möglichst eng an seine Kodifikation hat binden wollen. In seinen Einführungskonstitutionen betont er geradezu notorisch, dass sein Werk „knapp“, „klar“, „wohlgeordnet“, „sachnah“ und „so schön wie möglich“ sein müsse, dass „rätselhafte Abkürzungen“, „verfängliche Siglen“, „überflüssige Längen“ und „Wiederholungen“ zu vermeiden seien. Heute wissen wir jedoch, dass es weder Justinian noch den Schöpfern der preußischen, französischen oder österreichischen Kodifikation gelungen ist, die Kontroversen der Juristen zu beenden.
Unter dem Einfluss der historischen Schule kamen im Laufe des 19. Jahrhunderts neue Vorstellungen über Gesetzgebungstechnik und Richteramt zum Durchbruch (14. Kapitel 3, S. 304). Die Schöpfer des Sächsischen BGB von 1865 (16. Kapitel 1, S. 341), des Zürcher Privatgesetzbuchs von 1854 (S. 355), des Schweizer Obligationenrechts von 1881 (S. 358) oder des Deutschen BGB von 1900 (16. Kapitel 3, S. 347) streben nicht nach einer lückenlosen Darstellung des Rechtsstoffs innerhalb des Gesetzes. Stattdessen haben sie Wissenschaft und Rechtsprechung Raum für Auslegung, Kommentierung und Rechtsfortbildung gewährt. Den Abschluss dieser Entwicklung bildet das Schweizer Zivilgesetzbuch von 1912 (16. Kapitel 5.2, S. 357), das in Art. 1 Absatz 2 den Richter anweist, notfalls nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Die neuen Ideen über das Verhältnis von Gesetz und Richter führten zu einer Ausweitung der Rechtsfortbildung durch großzügige Interpretation, insbesondere der Generalklauseln. Hinzu kommt die wachsende Zahl von Rechtsquellen (18. Kapitel, S. 389), die – in den Worten Justinians – die Rechtsordnung in „Verwirrung“ stürzen. Derzeit mehren sich die Klagen über die zunehmende Unverständlichkeit des Rechts und der Gesetzessprache. Ob die neuestens zu beobachtenden Beschränkungen der Auslegung, etwa in den Bereichen des Kapitalmarkt- oder Gentechnikrechts, einen Rückschritt gegenüber dem um 1900 erreichten Stand der Gesetzestechnik bedeuten, ist ein Desiderat der Forschung. [<<116]
5.2 Das justinianische Gesetz als Kodifikation
Nun hatte Justinian das Corpus iuris zwar als Gesetz verkünden und in Kraft treten lassen. In Wirklichkeit enthalten seine wichtigsten Teile aber gar keine Gesetze, sondern eine Zusammenstellung von eben jenen Problemlösungen, welche die klassischen römischen Juristen erarbeitet hatten. Römisches Recht ist kein Gesetzesrecht, sondern Fallrecht, das in seiner klassischen Form in der Rechtsprechung der Prätoren und in den Schriften der Juristen ausgebildet worden ist (vgl. Kaser, RP II, 38 f.). Das Corpus iuris ist daher eher Kompilation als Kodifikation. Als erster hat der bedeutende Romanist Friedrich Carl von Savigny (14. Kapitel 2, S. 302.) den Versuch einer Begriffsklärung unternommen, und zwar in seinen erst kürzlich edierten, ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachten Notizen zu Vorlesungen über die juristische Methode:
„Im römischen Recht Gesetze sind ursprünglich die Novellen und die neueren Constitutionen des Codex, also bey weitem das schlechteste – nicht Gesetze die Pandekten und die Rescripten, bey weitem das beste und wichtigste (nämlich daß dieses alles durch Justinian Gesetz geworden ist ändert nichts).“