Bald darauf kam auch ihre Mutter, beladen mit einer großen vollen Einkaufstasche. Zuerst schaute sie etwas misstrauisch, als sie sah, dass ihre Tochter sich da mit einem wildfremden Mann unterhielt. Die Situation hatte sich aber schnell bereinigt, nachdem mich Lisa vorgestellt hatte. Die beiden luden mich ein, sie bald zu besuchen. Dort könnte Lisa mir in Ruhe ihre Geschichte erzählen. Wir tauschten die Telefonnummern aus. Dann schwangen sich Mutter und Tochter auf die Fahrräder und machten sich auf den Heimweg. Ich blieb allein am Brunnen zurück.
Eines Tages – einige Wochen waren vergangen und der Alltag hatte mich wieder eingeholt – klingelte mein Telefon. Es war Lisa. Sofort erinnerte ich mich wieder an die Begegnung am Brunnen. Sie fragte, wann ich kommen könnte. Sie seien gerade aus dem Urlaub zurück, und sie könne es kaum erwarten, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ob ich sie noch hören wolle? Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen.
In dem alten Försterhaus, direkt am Rande eines riesigen Waldgebietes wurde ich von Lisa und ihren Eltern herzlich begrüßt. Die Familie war jedoch nicht allein. Es waren noch zwei Freunde anwesend. Ein Mädchen und ein Junge – beide etwas älter als Lisa – saßen im Wohnzimmer.
Irgendetwas Geheimnisvolles umgab die beiden. Das Mädchen sah mich durchdringend an und mir wurde ganz seltsam zumute. Die beiden waren merkwürdig schweigsam und verabschiedeten sich auch bald. Man merkte, dass sie sich alle sehr gut kannten, denn die Verabschiedung fiel sehr herzlich aus.
Später sagte Lisa, das seien ihre Freunde Anne und Robert. Ich würde noch von ihnen hören. Dieses Gefühl hatte ich auch sofort. Beim Hinausgehen warf mir das Mädchen noch einmal diesen merkwürdigen, durchdringenden Blick zu.
Lisas Mutter erschien mit Kaffee und Kuchen und ich stellte ein kleines Aufnahmegerät auf den Tisch. Und Lisa fing an zu erzählen …
1. Ferien bei Onkel Heinrich
„Lisa, hast Du schon deine Sachen gepackt?“ Die Mutter kam ins Zimmer und war sehr erstaunt, dass ihre Tochter geschäftig hin und her lief und einen Koffer und einen Rucksack packte.
„Sag mal, du freust dich wohl auf deine Ferien?“
„Na klar, Ferien bei Onkel Heinrich sind doch immer toll. Wann fahren wir denn?“
„Sobald du mit dem Packen fertig bist.“
„Aber Mama", sagte Lisa, „ist doch schon alles erledigt. Ich warte nur noch auf dich."
Kurze Zeit später saßen sie im Auto, und Lisa dachte daran, was sie in den nächsten Tagen wohl erwarten würde. Jetzt waren zwar Ferien, aber ihre Eltern mussten noch zwei Tage arbeiten. Erst dann begann auch für sie der Urlaub. So wurde beschlossen, dass Lisa ein paar Tage zu ihrem Onkel Heinrich fahren sollte. Das war toll. Lisa freute sich darauf, denn der Bruder ihres Vaters war ein netter Kerl, allerdings auch ein bisschen verschroben. Er wirkte manchmal wie ein zerstreuter Professor.
Onkel Heinrich lebte ganz allein in einem ziemlich alten Haus, das vollgestopft war mit vielen interessanten und geheimnisvollen Sachen. In fast jedem Zimmer gab es Regale, in denen sich Bücher und merkwürdige Gegenstände stapelten, die er von seinen vielen Reisen mitgebracht hatte.
Sogar im Klo lagen jede Menge Comics rum. Der Leseratte Lisa kam das natürlich gerade recht. Außerdem gab es bei Onkel Heinrich kaum Vorschriften, an die man sich halten musste. Sie konnte aufbleiben, solange sie wollte und fernsehen, bis ihr die Augen zufielen. Dann kam Onkel Heinrich, nahm sie behutsam auf die Arme und brachte sie zu Bett.
Beim Essen hatten beide ziemlich den gleichen Geschmack. Und so gab es dann auch sehr oft ihr Lieblingsgericht: Currywurst mit Pommes. Das Frühstück bestand meist aus Brötchen mit Nutella. Na ja, nicht unbedingt die gesündesten Sachen, aber in den Ferien konnte man es sich schon mal ausnahmsweise erlauben.
Nun war Lisa also mit ihrer Mutter unterwegs zu Onkel Heinrich. Die Fahrt dauerte nicht sehr lange, denn er wohnte ganz in der Nähe. Als die beiden ankamen, stand er schon am Gartentor. Ein ziemlich kleiner Mann mit einer silbernen Löwenmähne, die immer ein bisschen verstrubbelt aussah. Er hatte ein freundliches Gesicht und verschmitzt funkelnde Augen, die von vielen kleinen Lachfältchen umrahmt wurden.
Lisa kannte ihn nicht anders, als mit seiner alten ausgebeulten braunen Cordhose und einem nicht gerade dazu passenden bunten Pulli. Aber Mode war für Onkel Heinrich offenbar ein Fremdwort. Immer wenn Lisa ihn besuchte, blühte er förmlich auf, denn sie brachte immer viel Leben in das alte Haus. Nach einer kurzen aber herzlichen Begrüßung gingen sie erst einmal ins Haus. Dort trank die Mama noch ein Glas Saft und verabschiedete sich dann: natürlich nicht, ohne Lisa noch ein paar total überflüssige Verhaltensregeln aufzuzählen. Aber die hörte da natürlich nur noch mit halbem Ohr hin.
Das Häuschen von Onkel Heinrich stand am Rand des Ortes in einem parkähnlichen Garten. Lisa kannte das Haus und auch den Garten, und nachdem sie mit Onkel Heinrichs Hilfe ihr Gepäck hineingetragen hatte, machte sie erst einmal einen Streifzug durch das ganze Anwesen. Viel hatte sich seit ihrem letzten Aufenthalt nicht verändert, und das lag daran, dass Onkel Heinrich das Anwesen so ziemlich sich selbst überließ. Einen grünen Daumen hatte er wohl nicht, aber das war für den Garten offenbar auch gut so. Denn der wuchs gerade so, wie es ihm gefiel. Und so machten Haus und Garten einen verwunschenen, geheimnisvollen Eindruck.
2. Warum sind die Bananen krumm?
Nachdem Lisa wieder ins Haus zurückgegangen war, suchte sie nach Onkel Heinrich. Sie wusste auch schon, wo sie mit der Suche beginne konnte, denn es gab einen Raum, in dem er sich meistens aufhielt. Das war sein Arbeitszimmer, oder zumindest das, was er dafür hielt. Und wie so oft war der Onkel mit irgendetwas beschäftigt. Als Lisa ins Zimmer kam, saß er, ihr den Rücken zugewandt, an seinem Schreibtisch am Fenster.
„Du, Onkel Heinrich, bei dir hat sich n der Zwischenzeit ja überhaupt nichts geändert. Sag mal, woran arbeitest du denn gerade?“ – „Äh, was?“ Onkel Heinrich war mal wieder sehr zerstreut. Er ging nämlich schon seit Wochen der überaus spannenden Frage nach, warum denn wohl die Bananen krumm sind. Dazu hatte er vor sich eine Reihe Blumentöpfe stehen.
Als Lisa genauer hinsah, konnte sie erkennen, dass kleine grüne Pflänzchen darin wuchsen. Onkel Heinrich war felsenfest überzeugt, er müsste ihnen nur beim Wachsen zusehen, und dann würde er ganz genau das Krummwerden beobachten. Lisa konnte da nur den Kopf schütteln.
„Meine Güte, da musst du ja noch Monate warten. Ist denn diese Frage nicht längst beantwortet?“ Onkel Heinrich grummelte nur irgendetwas vor sich hin und dann hatte er Lisa bereits wieder vergessen. Die machte sich jetzt erst einmal über die Bücherschätze von Onkel Heinrich her. Außerdem gab es noch so viel anderes zu entdecken. Die Zeit verging wie im Flug.
Am nächsten Tag – die beiden hatten gerade mit Genuss ihre Nutella-Brötchen verdrückt – wollte Onkel Heinrich sich schon wieder in sein Arbeitszimmer zurückziehen. Lisa war das allerdings gar nicht recht: „Hey, was meinst du, sollten wir nicht mal was unternehmen? Dir würde es auch gut tun, mal aus dem Haus zu kommen.“
Onkel Heinrich schaute sie sinnend an, dann lächelte er. „Das ist ja eine gute Idee. Mir fällt nämlich gerade ein, dass ich hier mal wieder Platz schaffen müsste. Demnächst bin ich wieder unterwegs und wer weiß, was für tolle Sachen ich dann mitbringe. Was hältst du davon, dass wir einiges auf dem Flohmarkt verkaufen?“ Lisa fand das sehr spannend. Es war schon ziemlich lange her, dass sie auf einem Flohmarkt war.
Zusammen streiften sie durch das Haus und luden dann eine Menge Sachen ins Auto.
3. Seltsame Angebote