»An die Ruder!«, kläffte der alte Seebär und nahm selbst vor einer der sechs Auskerbungen Platz, durch die er sogleich eine der langen Holzstangen schob. Der Kahn, dessen gesamtes Innenleben lediglich aus einigen morschen Bänken bestand, die im blanken Holz festgenagelt waren, hätte zur Not auch noch weiteren Passagieren Platz geboten. Doch da die anderen Seeleute nicht mit hinüber wollten, blieben drei von ihnen gelangweilt auf dem flachen Steg sitzen.
Mit jedem Ruderschlag entfernte sich die Fähre weiter vom Festland und Darius konnte vor Aufregung schon bald nicht mehr an sich halten, sodass er beinahe zwanghaft aller paar Atemzüge den Kopf nach hinten drehte, um hinüber zur Insel zu sehen. Es dauerte nicht lange, bis er die ersten Fischerhütten am anderen Ufer ausmachen konnte. Mit jedem Blick, den er über die Schulter warf, schienen die flachen Holzhäuser zahlreicher zu werden. Schon bald wuchsen die einzelnen, kläglichen Behausungen zu einem ganzen Dorf heran, das sich in einem weiten Band um die stetig näher rückende Festung schmiegte, von der er jetzt bereits die Fenster erkennen konnte.
»Werde ich eigentlich in so einer Hütte leben oder in der großen Burg?«, fragte Darius hoffnungsvoll und wünschte sich, dass Aaron und nicht Ramir ihm diese Frage beantworten würde.
»Als angehender Iatas lebst du in Baknakaï, wo du anfangs auch ausgebildet wirst. Die umliegenden Hütten sind unsere Kornkammer«, erklärte Aaron, wobei seine Stimme gleichmäßig ruhig blieb und man gar nicht bemerkte, dass er während des Sprechens körperlich arbeitete. Genau wie Darius selbst, hatte auch er sich von Beginn ihrer Fahrt an mächtig ins Zeug gelegt.
Mit Genugtuung hatte der Jüngling in den ersten Augenblicken festgestellt, dass sein Ruder immer ein wenig eher ins Wasser ein- und dann auch wieder daraus hervortauchte als das von Ramir. Doch nun, wo sich ihre kurze Reise über die Meeresenge zusehends dem Ende näherte, ließen seine Kräfte merklich nach. Obwohl sich beachtliche Muskelberge unter dem einfachen Leinengewand des jungen Diebes spannten, so waren Anstrengungen über einen längeren Zeitraum dennoch gänzlich neu für ihn.
»Kornkammer? Was soll das heißen?«, keuchte er und versuchte dabei seinen Tonfall dennoch betont beiläufig klingen zulassen.
»Es bedeutet«, erwiderte Aaron, nach wie vor gelassen, »dass die Menschen, welche in der kleinen Siedlung rund um Baknakaï herum leben, einzig für uns arbeiten. Sie sind Bauern oder Fischer, die ihren gesamten Ertrag an uns weitereichen müssen und selbst nur das behalten dürfen, was sie zum Leben brauchen.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Darius verwundert und runzelte die schweißnasse Stirn. »Wieso nehmt ihr den Bauern ihre gesamte Ernte? Ihnen sollte erlaubt sein, ihre Waren zu einem gerechten Preis auf einem Markt zu verkaufen.«
»Ganz einfach«, erklärte ihm Aaron milde lächelnd. »Diese Menschen hier haben schon seit Generationen einen Vertrag mit uns, der ebenso einfach wie nützlich ist. Auf ganz Epsor toben Krieg und Gesetzlosigkeit. Vielleicht nicht gerade hier und jetzt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste größenwahnsinnige Fürst oder eine Bande wütender Orks ihre Nachbarn überfallen. Diese Menschen werden allerdings geschützt bleiben, denn in seinem gesamten Bestehen wurde Baknakaï nicht nur noch nie erobert, es wurde bisher nie auch nur angegriffen. Was, nebenbei bemerkt, auch kein Wunder ist, denn hier werden Krieger ausgebildet, von denen es jeder einzelne mit einer ganzen Truppe wilder Orks oder anderem Gezücht aufnehmen könnte. Und für den Schutz, den die Menschen auf dieser Insel genießen, leisten sie uns Abgaben, die uns wiederum unabhängig vom Festland machen.«
»Oh ... Ich verstehe«, schnaufte Darius abgehackt. Die Worte leuchteten ihm tatsächlich ein.
»Das sollte dich im Moment allerdings nicht interessieren«, mischte sich Ramir mit einem schneidenden Unterton in der Stimme ein. »Du wirst in Kürze dem Mann gegenüberstehen, der dein restliches Leben beeinflussen wird, wie kaum ein zweiter.«
Darüber hatte Darius sich in den letzten Tagen wahrlich mehr als einmal den Kopf zerbrochen. Als das kleine Boot endlich auf dem Strand auf Grund lief, war seine Kleidung unter den Armen und am Hals bereits unangenehm durchnässt. Obwohl seine Lungen brannten und sich auf seinen Handflächen bereits feuerrote Schwielen abbildeten, galten seine dringendsten Gedanken dennoch dem, was wohl nun gleich mit ihm geschehen würde. Während die drei schweigsamen Seemänner den Kahn ein Stück weit den Strand hinauf zogen, damit er nicht von der nächsten Welle davon getrieben wurde, waren Aaron und Ramir bereits über Bord gesprungen und wateten durch das knietiefe Wasser. Darius folgte ihnen zwar unaufgefordert, dennoch sehnte sich ein Teil von ihm danach, auf der Stelle wieder kehrt zu machen und zum Festland zurück zu rudern. Ein anderer, größerer Teil in ihm, der Teil, der in den vergangenen Tagen vor Aufregung Stück für Stück gewachsen war, verlangte nun allerdings danach, endlich auf den Mann zu treffen, von dem er die nächsten Jahre alles erlernen sollte.
Mit weichen Knien marschierte Darius über den ebenso weichen Sand, der an seinen nassen Stiefeln kleben blieb und in dem er bei jedem Schritt knöcheltief versank. Wie selbstverständlich marschierten Aaron und Ramir zwischen den einfachen Holzbauten hindurch, die unmittelbar nachdem der sandige Untergrund in tiefschwarze Erde übergegangen war, bar jeder Ordnung aus dem Boden sprossen. Grob- und feinmaschige Netze waren vor den Hütten aufgespannt und vereinzelt rannten Kinder spielend um sie herum.
Bereits nach wenigen Augenblicken schritten die drei Weggefährten schweigend einen schmalen Weg empor, der steiler bergauf ging, als es vom Strand aus den Anschein erweckt hatte. Von ihrer erhöhten Position aus konnte Darius erkennen, dass in einer kleinen Bucht, nordwestlich von ihnen, ein gutes Dutzend Fischerboote wie kleine Insekten auf dem Meer lagen. Noch immer war er viel zu aufgeregt, um eine große Unterhaltung führen zu können, dabei schossen ihm mit einem Male unendlich viele Fragen durch den Kopf. Wie würde sein neuer Meister wohl sein? Was würde er von ihm erwarten? Doch die wohl Dringendste war: Gehörte er überhaupt hierher? Unzählige Male war ihm der Gedanke, dass sich der Schamane womöglich getäuscht haben könnte, bereits durchs Hirn gespukt. Doch nie zuvor war er so allgegenwärtig gewesen, wie in diesem Augenblick. Was, wenn er den Anforderungen nicht gerecht werden würde?
»Da wären wir.« Aarons Worte rissen Darius aus seinen Gedanken. Er hatte kaum bemerkt, wie sie sich der Festung genähert hatten. Alles kam ihm wie in einem Traum vor. Die Felder, die den Weg links und rechts flankierten und auf denen Bauern ihrer Arbeit nachgingen, sahen aus, wie die in der Nähe seines Heimatdorfes und doch hätte er sich kaum in einer befremdlicheren Umgebung befinden können.
Wie eine riesige, flachbehauene Felswand türmten sich die grauen Mauern Baknakaï vor Darius auf. Unterbrochen waren die gut zehn Schritt hohen Granitwände lediglich von vereinzelten, schmalen Fenstern, die sich wie kaum wahrnehmbare Einkerbungen von dem ansonsten makellosen Fels abhoben. Gemeinsam durchschritten die drei die weit geöffneten hölzernen Torflügel, welche mehr als doppelt so groß waren wie Darius. Die dicken, fugenlos aneinander genagelten Bretter waren beidseitig mit schützenden Bändern aus vernietetem Metall umgeben, wodurch ein gewaltsames Eindringen von außen unmöglich erschien. Dicht hinter seinen Reisegefährten betrat der junge Dieb, mit vor Staunen weit geöffnetem Mund, die weitläufige Eingangshalle, in der sie bereits erwartet wurden.
»Das ist Farjez«, stellte Aaron einen älteren, ziemlich schmächtig wirkenden Mann vor, den er soeben mit einem Kopfnicken begrüßt hatte. Mit seinen grauen Haaren und dem faltigen Gesicht wirkte er in dieser Burg, die zugleich die größte Kaserne der Welt war, seltsam fehl am Platz. »Unsere Arbeit endet hier. Er wird dir ein Zimmer zur Verfügung stellen, in dem du dich ausruhen und etwas essen kannst. Anschließend wird er dich deinem neuen Meister vorstellen und ...«
Doch Darius unterbrach ihn mitten im Satz: »Er wird mich meinem neuen Meister vorstellen? Wie soll das vonstattengehen? Sagt er mir seinen Namen, ich ihm dann meinen und das war’s? Gibt es da nicht irgendeine Zeremonie, bei der ich irgendetwas beachten muss?«
»Was hast du dir vorgestellt?«, antwortete Ramir für seinen Meister.