„Danke, ich werde mich beeilen.“ Das muss ich wirklich, denn ich habe nur noch zwanzig Minuten.
Meine Mutter wiederholt die offizielle Ansage in bemüht ruhigem Ton. „Wenn du bestehst, holt dich gleich im Anschluss ein Schnelltransporter ab und bringt dich ins Trainingszentrum nach Polaris. Du sollst keine persönlichen Gegenstände mitbringen, WERT wird dich rundum versorgen.“
Mir wird die Kehle eng. Falls ich den Test schaffe, kehre ich lange nicht mehr zurück. Ich spüre einen Kloß im Hals und heißen Druck auf den Augen. Bloß nicht weinen. Ich schlucke und versuche, meine zitternde Stimme zu kontrollieren. „Danke, Mama“, ist alles, was ich herausbringe, bevor ich mich an unseren kantigen Esstisch setze.
Meine Mutter füllt eine Schale mit Bohnenbrei und nimmt mir gegenüber Platz. Neben meine Esspappschachtel legt sie mir die Tagesration Vitaminpillen. Unsere frischen Paprika müssen wir verscherbeln, dafür pumpen wir uns mit billiger, von WERT gesponserter Vitamin-Chemie voll.
Anstatt die Tabletten einzuwerfen, ordne ich sie nach der Farbe. Gelb. Orange. Rot. Violett. Die ganze Zeit lastet der Blick meiner Mutter auf mir. Sorge, Wehmut und ein Schimmer Hoffnung spiegeln sich darin wider. Immer wieder holt sie Luft, als wollte sie etwas sagen, schweigt dann aber doch.
Um der drückenden Stimmung zu entfliehen, stehe ich auf und wende mich meinem Chamäleon zu. Ich öffne die Abdeckung des Terrariums, und Emil greift mit seinen Klammerzehen nach meiner Hand. Flink klettert er auf meinen Arm. Emil dreht ein Auge zu mir und das andere zu meiner Mutter, fast so, als wüsste er, wer ihn ab sofort füttert. Zum Abschied lässt er sich sogar über den stacheligen Rückenkamm streicheln, wobei sich die Schuppen unter meinen Fingern verfärben. Seine Seitenstreifen werden erst gelb, dann orange und nehmen schließlich ein leuchtendes Rot an. Als er mich aus seinen Kugelaugen anschaut, spüre ich neue Kraft. Ich schaffe das.
Ich schaffe das. Ich schaffe das.
Draußen vor der Tür höre ich Felix pfeifen. Schon fünf vor zehn! Hastig lasse ich Emil runter, umarme meine Mutter und drücke sie. Sie wendet sich ab, damit ich ihre Tränen nicht sehe.
Ich spurte hinter Felix her. Auf dem Weg zum Verwaltungstrakt laufe ich schnaufend neben ihm, während er über die möglichen Prüfungen spekuliert. „Vor ein paar Jahren haben sie Altrussisches Roulette nachgestellt“, behauptet er, „mit elektromagnetischen Pistolen. Die Chancen stehen eins zu sechs, dass die Waffe scharf ist.“
„So ein Quatsch. Das glaubt doch niemand.“
„Dann glaubst du es halt nicht. Aber gefährlich sind die Prüfungen immer.“
Mein Magen zieht sich zusammen. Da hat er recht. Das erzählt jeder.
„Wir müssen uns zusammentun“, meint Felix. „Als Team sind wir unschlagbar.“ Seinen Optimismus möchte ich haben.
Felix schlägt Pfeifzeichen zur geheimen Verständigung vor. Eine ansteigende Tonleiter gilt als Hilferuf, eine fallende bedeutet „Mach‘s wie ich“, und drei konstante Pfiffe heißen „Keine Ahnung“. Bittend blickt er mich von der Seite an.
„Okay, okay“, stimme ich seufzend zu. Irgendeinen Plan sollten wir haben. Dummerweise weist uns ein Angestellter des Testbüros sofort in getrennte Warteräume ein. Wir können nur noch schnell unsere Rauringe aneinanderklicken. „Das bringt Glück“, erklärt Felix noch schnell, bevor uns die Testleiter in unsere Kabinen bugsieren.
So viel zu unserem fantastischen Plan.
Während ich allein in dem kleinen Raum sitze, schaue ich mich aufmerksam um. Ein Regal mit diversen Gerätschaften füllt die gegenüberliegende Wand des schmalen Zimmers. Neben gläsernen Scanner-Röhren in unterschiedlichen Größen, den dazugehörigen Stativen, Ladestationen und Eingabepads liegen auch Integralhelme verschiedener Größen darin aufgereiht. In dem schummrigen Licht sehen sie aus wie eine Armada von Geisterkriegern, die nur darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Mein Gesicht spiegelt sich grotesk verzerrt in den Visieren der Helme.
Energische Schritte schrecken mich auf. Sie gehören zu einem athletischen Mann, der mit seinem dünnen schwarzen Overall aus dem Regenring stammen muss. So etwas Schickes trägt hier niemand.
„Emony Keller?“ Er spricht, wie er geht, schnell und zackig.
„Ja.“
Nach einem kurzen Blick auf seine Liste tritt er zum Regal und reicht mir einen Helm.
„Was ist das?“
„Ein Gehirnstrommesser. Aufsetzen.“
Ich hebe den erstaunlich leichten Helm hoch und senke ihn mit zittrigen Fingern über meine heiß glühenden Ohren. Sofort beschlägt mein Atem die Innenseite des Visiers. Das Zimmer um mich herum erscheint verzerrt. Ich kneife die Augen zusammen und kämpfe gegen ein aufsteigendes Schwindelgefühl an.
„Ich kann so schlecht sehen.“ Meine Stimme hallt dumpf in dem engen Helm wider.
„Das kommt von der Wölbung des Glases“, erwidert der Overallträger mit blecherner Stimme. Meine Haut juckt unter dem Helm, und sein Metallverschluss drückt mir an den Kehlkopf. Mir ist schlecht. Hoffentlich muss ich nicht gleich kotzen.
Der Testleiter bedeutet mir, vor die Tür an der Stirnseite der Wartekammer zu treten. Plötzlich öffnet sie sich, und ich kippe vor Schreck fast um.
Vor mir klafft ein quadratischer Betonschacht. Er ist so dunkel und tief, dass man den Boden kaum erkennt. Ich wusste nicht, dass unterhalb unserer Wohnetagen noch so weit hinuntergegraben wurde. Den Schacht überbrückt ein schmaler, rostiger Gittersteg.
„Auf den Steg treten.“
Das hatte ich befürchtet. Vorsichtig setze ich einen Fuß darauf. Das Metall quietscht und gibt nach. Ich atme tief ein und ziehe das zweite Bein nach.
Nur nicht runterschauen, ermahne ich mich.
Am anderen Ende der schmalen Brücke öffnet sich eine zweite Tür. Eine Gestalt, die ebenfalls einen Helm trägt, zuckt vor dem Abgrund zurück, blickt sich noch einmal um und betritt zögerlich den Steg. Mein Gegenüber ist genauso angezogen wie ich, allerdings größer, kräftiger, männlicher. Er guckt in die Tiefe und schwankt leicht. Unsicher bewegt er sich auf mich zu. Während er näher kommt, atme ich erleichtert auf, denn hinter dem spiegelnden Visier erkenne ich Felix.
Ich pfeife drei monotone Töne, die unter der Kopfbedeckung widerhallen, doch Felix reagiert nicht. Vorsichtig winke ich ihm zu. Anstatt auf unseren Geheimcode zu reagieren, starrt er mich nur ausdruckslos an. Ihm ist noch übler als mir, schätze ich.
„Der Auftrag lautet: den Gegner vom Steg werfen“, verkündet der Testleiter.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Wie bitte? Was???
Ich kann Felix doch nicht in den Abgrund werfen! Diesen Sturz überlebt niemand. Wollen sie uns etwa zu Mördern ausbilden? Wir bewerben uns als Kraftwerksarbeiter, nicht als Auftragskiller. Ich schaue mich nach dem Overallträger um, allerdings ist der nicht mehr da und hat die Tür hinter mir schon geschlossen.
Felix ist wie versteinert. Das Kinn vorgereckt, horcht er auf weitere Erklärungen. Bestimmt denkt er das Gleiche wie ich: Das können die nicht ernst meinen. Da dürfen wir nicht mitmachen! Er wird mir nichts tun, ich ihm auch nicht. So gibt es keine Verletzten, keine Verlierer. Und auch keinen Sieger. Damit sind wir durchgefallen. Beide.
Felix tritt einen Schritt auf mich zu und hebt die Hände. Mein Kopf ruckt hoch. Was soll das werden? Ich kann mich auf ihn verlassen – oder? Er wird doch nicht …
Sein harter Stoß gegen meine Brust trifft mich völlig unvorbereitet. Panisch schreie ich auf. Kralle mich reflexartig an ihm fest. Verliere das Gleichgewicht, reiße ihn fast mit mir, lasse allerdings nicht los. Wir schwanken gemeinsam auf dem schmalen Steg. Mein Griff ist fast wie eine Umarmung. Ich will meinen Kopf drehen, um ihm