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der Welt aus der Religion« nicht uneingeschränkt nachvollziehbar. Der Autor von Le désenchantement du monde14 liest die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche unter den Vorzeichen eines säkularen Aufeinandertreffens der »Partei der Autonomie« und der »Partei der Heteronomie«. Er vertritt dabei die Meinung, dass erstere, mit anderen Worten die Demokratie, metaphysisch betrachtet gewonnen habe, während ihre Gegenspielerin, verkörpert im Versuch der Religionen, das politische und gesellschaftliche Leben der gesamten Gemeinschaft zu strukturieren, im Grunde gescheitert sei. Die Folge dieses vermeintlichen Triumphs der Demokratie bestehe jedoch im Sinnverlust der Demokratie. Sei der »Feind« erst einmal beseitigt, verliere der laizistische Staat seine Autorität. Ihm fehle ein »metaphysischer« Entwurf, eine »umfassende Sinndoktrin«, die er der Partei der Heteronomie entgegensetzen könne. Gauchet beschreibt diese Phase als den »letzten theologisch-politischen Umschwung der Moderne«.15 Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hätte die berüchtigte und immer wieder heraufbeschworene »Rückkehr der Religionen«16 laut Gauchet rein gar nichts mit ihrer Fähigkeit zu tun, die politische Struktur zu formen, sondern wäre vielmehr eine Folge des Austritts der Welt aus der Religion. Dieser Zustand bewirke nämlich, dass die Religionen sich »privatisierten« und als »Quellen eines Sinns und umfassender Doktrinen« eine neue Existenzberechtigung fänden.17

      Anders gesagt, Gauchet vertritt die Meinung, »die politische Geschichte der Religionen« sei am Ende,18 was freilich weder bedeute, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft hätten, noch dass das Religiöse verschwunden oder im Verschwinden begriffen sei, sondern nur, dass es keine strukturierende Funktion für Politik und Gesellschaft habe. Dass die Religion »privatisiert« worden sei, impliziert für Gauchet keinesfalls, dass sie zu einer ganz und gar persönlichen Angelegenheit werde, die sich nur noch zwischen den eigenen vier Wänden abspielen darf: »Die Aussage, dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert sind, erfasst bloß die grundlegende Tatsache, dass sie ihre Stellung als öffentliches Gesetz verloren haben. […] Mit dieser Privatisierung geht keine Isolierung des Glaubens in ein Intimes einher, in dem [die Religionen] verbleiben müssten. Die Privatsphäre ist nicht deckungsgleich mit dem Intimen.«19

      Gauchets These erfasst zweifelsohne einen wesentlichen Punkt: Die Säkularisierung hat die Religionen »gezwungen«, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen und eine Rolle als »Sinnreservoir« im Privatleben der Gläubigen einzunehmen. Seine Interpretation ist jedoch auf die historische Beziehung zwischen dem Staat und den christilichen Kirchen, insbesondere der katholischen, zugeschnitten. Heutzutage sehen wir uns mit anderen Subjekten konfrontiert, die das verkörpern, was Gauchet die »Partei der Heteronomie« nennt – von den protestantischen Fundamentalisten über die katholischen bis hin zu den islamischen –, und die für den laizistischen Staat eine ganz neue Herausforderung darstellen.

      Diese Herausforderung muss angenommen werden, sonst hat man bereits verloren. Sofern man sich nicht einer deterministischen und finalistischen Geschichtsvision verschrieben hat, muss man einerseits zuerkennen, dass dieser Prozess des »Austritts aus der Religion« von der Kirche akzeptiert oder, vielleicht besser, erlitten worden ist, und das auch nur mit Gewalt und dank eines unablässigen Streitens für Laizität und Säkularisierung. Andererseits muss aber auch gesehen werden, dass diese Schlacht nicht ein für alle Mal geschlagen ist und dass die Religionen – heute auch in ihren fragmentierten und fundamentalistischen Spielarten – sich kontinuierlich bemühen, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Es scheint daher etwas vorschnell, mit Gauchet zu konstatieren, »dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert«20 seien.

      Unabhängig davon räumt der Autor selbst ein, die Fundamentalisten zielten darauf ab, jene Ordnung wiederherzustellen, in der die Religion den öffentlichen Raum strukturiere, was jedoch nicht heiße, »dass ihr Handeln in der Realität den gewünschten Effekt erzielt«.21 Angenommen, das stimmte, was in jedem Fall erst einmal zu beweisen wäre, müsste man sich zunächst grundsätzlich fragen: Wieso nicht?, und als Nächstes: Wie lange noch?

      Anders gefasst, der Austritt der Welt aus der Religion ist – um weiterhin mit Gauchet zu sprechen – kein notwendiges Produkt der Geschichte, sondern das Ergebnis einer Dialektik zwischen entgegengesetzten Kräften. Obwohl also das Bild vom Austritt aus der Religion eine große beschreibende und erklärende Kraft entfalten mag, ist es womöglich auf einer normativen und die Praxis betreffenden Ebene kaum sprechend. Es gibt keine Religion, die ihrem Wesen nach der Laizität mehr oder weniger zu- oder abgeneigt wäre. Alle Religionen sind Entwürfe der Heteronomie, die einen Sieg der Autonomie, falls überhaupt, nur widerwillig akzeptieren. Die Laizität ist folglich also ein Autonomieentwurf, der sich gegen den Willen aller Heteronomieentwürfe durchgesetzt hat, von denen Religionen wiederum nur die Spitze darstellen. Davon auszugehen, dass es sich dabei um eine mittlerweile selbstverständliche Errungenschaft handelt, wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtum.

      »Die Tatsache, dass der Staat ein laizistischer ist, das ist heutzutage in Frankreich ebenso wie in der Türkei längst eine ausgemachte Sache«, schrieb Roy 2005,22 und heute kann jeder mitansehen, wie die Türkei immer weiter abdriftet. Gauchet vertritt in Hinblick auf die Rolle der Religion in Polen die Meinung, dass »die massive Bestätigung einer katholischen Identität seitens eines Großteils der Bevölkerung (mehr als 90 Prozent) in keiner Weise mit einem tatsächlichen Wiedererstarken der Kirche einhergeht, wenn es etwa darum geht, die eigene Sexualmoral durchzusetzen«.23 Diese Haltung wurde auf traurige Weise von den heftigen Angriffen auf die Frauenrechte, insbesondere den Schwangerschaftsabbruch, widerlegt, die die katholische Kirche dort seit einigen Jahren betreibt (darauf wird noch zurückzukommen sein). Der Grund für solche eklatanten Fehleinschätzungen liegt darin, dass selbst extrem scharfsichtige und aufschlussreiche Untersuchungen früherer Ereignisse die Kategorie des menschlichen Handelns außer Acht lassen, mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Es ist eine Sache, zu rekonstruieren, welche gesellschaftlichen Dynamiken eine bestimmte Situation herbeigeführt haben, eine ganze andere jedoch, davon auszugehen, dass die Dinge gar nicht anders hätten laufen können und der Weg nunmehr vorgezeichnet sei.

      Was geschieht, ist nämlich nichts anderes als bloß einer von zahllosen möglichen Entwürfen dessen, was hätte geschehen können. Sicher, sobald etwas einmal geschehen ist, steht fest, dass es in gewisser Hinsicht nicht hätte nicht geschehen können, aber eine Analyse der Vergangenheit auf die Handlung der Gegenwart zu projizieren, ist eigentlich nicht hilfreich, da wir nicht wissen können, welches Element im Hier und Jetzt den Wandel in die eine oder andere Richtung auslösen wird. Eine geringfügige und unvorhersehbare Fluktuation war ausreichend, um in der Leere den Urknall auszulösen.24 Keiner von uns kann sich sicher sein, dass nicht ausgerechnet unser Handeln diese minimale Fluktuation darstellt, die den Lauf der Dinge verändern wird. Dabei macht gerade diese Unwägbarkeit der Geschichte es unabdingbar, Stellung zu beziehen und zu handeln.

      Letztlich ist es auch gar nicht wahr – womit wir bei einem weiteren Mythos wären, den es zu entzaubern gilt –, dass der laizistische Staat keinen »ethisch-politischen« Gehalt hätte oder, um erneut Gauchets Worte zu bemühen, keinen »metaphysischen« Entwurf, keine »umfassende Sinndoktrin«, die überdies reich an relevanten praktischen Konsequenzen ist. Der Schutz der Autonomie und der Rechte aller und jedes Einzelnen stellt eine ganze Bandbreite an Konsequenzen dar und auch an Sinnstiftung. »Es ist nicht wahr«, schreibt Henri Peña-Ruiz, »dass Laizität das Synonym einer entzauberten Welt darstellt, in der es an ethischen Beziehungen und Referenzen mangelt. Das laizistische Ideal vereint die Menschen über das, was sie aufhebt und dabei befreit: Herrscher über die eigenen Gedanken zu werden, um auch, soweit möglich, über das eigene Handeln zu herrschen.«25

      Die entzauberte Welt, die feststellt, dass jenseits des schmalen Horizonts unseres Lebens nichts weiter existiert, ist dieselbe Welt, die den Sinn auf die Menschlichkeit des Menschseins zurückführt. Ist das (öffentliche) Feld endlich von der belastenden Anwesenheit Gottes bereinigt, wird der Mensch zum Herrn der Welt, jedes einzelne menschliche Wesen in seiner Universalität. Unter diesen Vorzeichen nimmt der laizistische Staat wieder eine grundlegende Rolle bei der Verbreitung dieses neuen ethisch-politischen Horizonts ein, der gleichzeitig endlich und universal ist.

      Im