Noch können wir nicht wissen, ob die Pandemie entsprechend der altgriechischen Bedeutung des Wortes »Krise« ein derart epochaler Einschnitt ist, dass er die Geschichte in ein Davor und ein Danach unterteilt. Das werden Historiker erst viel später entscheiden. Und doch spüren wir, dass es sich hier um eine Zeitenwende handeln könnte, wie es sie zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg gab: »Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört«, schrieb der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig im Exil Anfang der 1940er-Jahre in seinen »Erinnerungen eines Europäers« und berichtete davon, dass er bis nach Indien und Amerika ohne Pass reisen konnte: »Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte.« Auch wenn das schon damals nur für die Privilegierten zutraf, die sich das Reisen leisten konnten, beschreibt Zweig doch sehr gut das Lebensgefühl grenzenloser Freiheit, das uns Europäern heute so selbstverständlich und lieb geworden ist. Zweigs Erinnerungen an »Die Welt von Gestern« sind auch deshalb wieder aktuell, weil sie uns zeigen, dass Katastrophen – dem Ersten Weltkrieg folgte mit der Spanischen Grippe eine Pandemie – oft die Weichen in die Zukunft stellen. Und zwar im Guten wie im Schlechten. Nationalismus, Protektionismus und wirtschaftliche Depression führten damals geradewegs in die nächste, noch größere Katastrophe. Am Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch rückten zumindest im Westen die Nationen zusammen, sodass kurze Zeit später die Idee Europas geboren wurde – zunächst als Wirtschafts- und später auch als Wertegemeinschaft.
Dies ist kein Buch über die Coronakrise. Wenn die Pandemie im Folgenden dennoch eine wichtige Rolle spielen wird, dann nur insoweit, wie sie das zentrale Thema dieses Buches berührt: den Kampf der großen Mächte China, Amerika und Europa um die technologische, wirtschaftliche und geopolitische Dominanz. Niemand ist gegen das Virus immun, die Pandemie hat liberale Demokratien genauso getroffen wie autoritäre Regime. Es gibt zwei Denkschulen, welchen Effekt die Pandemie auf den geopolitischen Machtkampf haben könnte: Entweder das Virus wirkt wie ein Katalysator, der die bereits vor seinem Ausbruch erkennbaren Konflikte verschärft. Oder wir werden aus dem Corona-Koma aufwachen und die Welt wird völlig anders aussehen. Dieses Buch vertritt eine mittlere Position: Die Pandemie beschleunigt langfristige Trends und spitzt den Kampf der großen Mächte zu. Dadurch wird sich die ohnehin in Auflösung befindliche alte Weltordnung schneller und deutlicher verändern, als es ohne das Virus geschehen wäre. Die Pandemie hat bereits die Rivalität zwischen Amerika und China verschärft. Beide Supermächte ringen mit Propaganda und Verschwörungstheorien um die Deutungshoheit der Katastrophe. Nationalismus, Protektionismus und Grenzen sind heute stärker als zuvor und scheinen vor allem Europa weiter zu schwächen. Neue Überwachungstechnologien spielen beim Schutz, vielerorts aber auch bei der Kontrolle der Bevölkerung eine entscheidende Rolle. Und auch das Rennen um den Corona-Impfstoff wird nicht zuletzt von neuen Technologien entschieden.
Das Virus trifft auf eine Welt mit politischen Vorerkrankungen, und Europa zählt dabei zu der besonders gefährdeten Risikogruppe. Für die Europäische Union ist die Corona-Pandemie gleich eine doppelte Herausforderung: Der erste Krisenreflex hat alte Grenzen neu gezogen, den Nationalismus geschürt, autoritären Populisten wie Viktor Orbán in Ungarn noch mehr Macht verliehen und den alten Streit zwischen Nord und Süd ums Geld wieder aufleben lassen. Die Krise weckt also ausgerechnet jene Untugenden, die Europa schon lange schwächen und die es als Gemeinschaft überwinden will. Zugleich jedoch offenbart die Coronakrise wie keine andere zuvor die Stärken der Europäer: ihren Glauben daran, dass Aufklärung und Vernunft gerade in Krisenzeiten unser Handeln leiten müssen. Ihre Einsicht, dass die Pandemie wie andere globale Bedrohungen keine Grenzen kennt und deshalb nur gemeinsam und solidarisch besiegt werden kann. Und ihr Vertrauen darauf, dass die politische Balance zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger und ihrem Wunsch nach Freiheit nur durch einen demokratischen und offenen Diskurs garantiert wird. Der Jahrhunderttest der Pandemie ist deshalb »Europas Stunde« und könnte zu einer Renaissance jener europäischen Tugenden beitragen, die den Kontinent einst stark gemacht haben. Auch nach der mittelalterlichen Pest folgte schließlich die europäische Renaissance.
Phil Graham, der frühere legendäre Verleger der »Washington Post« hat Journalismus einmal als »ersten Entwurf der Geschichte« bezeichnet. In diesem Sinne ist dieses Buch ein journalistisches Buch. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist noch nicht zu Ende. Viel spricht dafür, dass wir noch mittendrin stecken und das Ende offen ist: Weder sind Chinas Aufstieg und Amerikas Abstieg ausgemacht, noch ist Europas Schwäche unabänderlich. Viel wird davon abhängen, wie wir die wirtschaftlichen und politischen Zukunftsfragen beantworten: Wie verteidigen wir in Europa unsere offene Gesellschaft und ihre Werte der Aufklärung gegenüber autoritären Staaten wie Russland und China und gegen populistische Scharlatane im Inneren? Wie wehren wir uns gegen den wachsenden Nationalismus, der die regelgebundene internationale Ordnung durch das Recht des Stärkeren ersetzen will und die Weltwirtschaft zu spalten droht? Wie sichern wir unseren Wohlstand in einer Welt, in der die marktwirtschaftliche Demokratie womöglich nicht mehr per se das wirtschaftlich und technologisch überlegene Gesellschaftssystem ist? Ist Europa in der Lage, die Pandemie nicht nur zu überstehen, sondern daraus vielleicht sogar gestärkt hervorzugehen? Die Antworten auf diese Schicksalsfragen sind offen. Das heißt aber auch: Wir können noch Einfluss nehmen auf den Lauf der hier erzählten Geschichte. Umso wichtiger ist eine informierte Debatte, zu der dieses Buch einen Beitrag leisten will. Niemand weiß, welche Richtung der neue Kalte Krieg zwischen den USA und China nehmen und welche langfristigen Folgen die Coronakrise haben wird. Gut möglich, dass die wachsende Rivalität zwischen China und dem Westen noch Jahrzehnte fortdauert. Drohungen, neue Handelsbarrieren und Wirtschaftssanktionen könnten sich abwechseln mit Verhandlungen, »Feuerpausen« und Friedensverträgen. Es ist aber auch möglich, dass der amerikanische Politologe Graham Allison Recht behält und die rivalisierenden Großmächte wie viele vor ihnen in die Falle des Thukydides tappen und es zu militärischen Scharmützeln kommt. Zum Beispiel im Südchinesischen Meer, wo China und die USA im Streit über Schifffahrtsrouten ihre militärischen Muskeln spielen lassen. Oder in Taiwan, das China für sich beansprucht und dessen Sicherheit und Demokratie die USA garantieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Kampf um die geopolitische Vorherrschaft im 21. Jahrhundert nicht auf dem militärischen Schlachtfeld, sondern in der wirtschaftlichen und technologischen Arena entschieden wird und dass neue Technologien wie die Künstliche Intelligenz dabei jene entscheidende Rolle spielen werden, die bislang die Atomwaffen beim militärischen Kräftemessen innehatten.
Torsten Riecke, im Juni 2020
Prolog
Noch zehn Minuten, um die Welt zu retten. Unerbittlich zeigt mir die digitale Uhr links auf dem schlichten Holztisch an, dass die Zeit abläuft. Was tun? 200 nuklear bestückte Interkontinentalraketen rasen unaufhaltsam auf Amerika zu. Vor mir liegen drei Handlungsoptionen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die prognostizierten Opferzahlen um zig Millionen Menschenleben schwanken. Wie auch immer ich mich entscheide, das Ende der Welt, so wie wir sie kennen, scheint sicher. »Ich brauche jetzt eine Entscheidung«, verlangt der uniformierte Chef der Streitkräfte auf einem Video-Bildschirm vor mir. Auf dem Bildschirm daneben philosophiert der Nationale Sicherheitsberater über die Motive des Angreifers, zu dem es keine Verbindung gibt. Der Monitor rechts davon flimmert nur noch – so wie mein Herzschlag etwa. Noch vier Minuten, um einen nuklearen Gegenschlag anzuordnen. Doch gegen wen? Nur Russland kommt als Angreifer in Frage, niemand sonst verfügt