Ludwig van Beethoven. 100 Seiten. Stefan Siegert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Siegert
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam 100 Seiten
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159615424
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ist Medium und Vehikel für die ersehnte staatliche Einheit, im deutschen Sprachraum auch das Idiom der Aufklärung. Maximilian Franz fördert nach dem Vorbild seines Bruders, des aufgeklärt despotischen Wiener Kaisers Josef II., in diesem Sinn mit der Gründung eines Nationaltheaters 1788 auch in Bonn die deutsche Bühnenkunst. Seit Lessing, Herder, Schiller, Goethe und für Musikfreunde besonders seit Mozarts »deutschem Singspiel« von der Entführung aus dem Serail (in Bonn schon 1783 erstmals gegeben) hat sich das Deutsche in dieser Zeit intensiv entwickelt. In Beethovens einziger Oper Fidelio wird zwanzig Jahre später deutsch gesungen, sie beginnt als Singspiel.

       3 Klaviersonaten Es, f, D »Kurfürstensonaten« WoO 47 (1783)

       3 Klavierquartette Es, D, C WoO 36 (1785)

       Trio für Klavier, Flöte, Fagott G WoO 37 (1786)

      Auf Initiative Belderbuschs, er ist auch Intendant des Theaters, kommen in Bonn schon 1782 Schillers Räuber auf die Bühne, 1783 die Uraufführung des Fiesco, für damalige Verhältnisse rebellische, ja revolutionäre Stücke. Der zwölfjährige Ludwig wird sie kaum gesehen, aber die Aufregung mitbekommen haben, die sie im Geistesleben der kleinen Residenzstadt am Rhein auslösten. Die aufregenden Gedanken, denen der seine bescheidene Grundschulbildung von nun an ganz im Sinn der Aufklärung ständig ergänzende und ausbauende Jüngling in Bonn erstmals begegnet, lassen ihn nicht mehr los; er entwickelt einen lebenslangen Bildungsbärenhunger.

      Die Französische Revolution, deren Zeitgenosse der 19-jährige Beethoven ist, ist kein Regime-, sondern ein Systemwechsel. Sie ersetzt die Herrschaft einer überlebten Klasse durch die einer aufstrebenden, mit der ungeheuren Dynamik einer neuartigen Ökonomie verbundenen Klasse. Ihre seit langem in der Luft Europas liegenden Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ihre politischen Vorstellungen von einer zentralstaatlichen Nation, von Republik und aus der Antike auferstandener Demokratie entflammen die Köpfe auch in Bonn. Aufklärung, das heißt, zu fragen, statt hinzunehmen, heißt, dem Gegebenen seine selbstbehauptete Alternativlosigkeit zu nehmen, die Welt zu erforschen, auf den Begriff zu bringen und selbst in die Hand zu nehmen. Nach Kants berühmten Worten ist Aufklärung »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. »Sapere aude!«, lautet die Parole: Habe den Mut, dich ohne Einflüsterungen von außen deines Verstandes zu bedienen. In den Worten des Dichters Friedrich Hölderlin, im selben Jahr geboren wie Beethoven: »Komm ins Offene, Freund!«

      Ludwig van Beethoven. Miniatur von Christian Hornemann, 1803

      Was immer der mit einem Minimum an Bildung ins geistige Leben gestartete Beethoven von Kant, dem Philosophen der Aufklärung, gelesen und verstanden hat: Radikal wie wenige seiner Zeitgenossen beginnt er, dessen Kerngedanken zu leben: Der Mensch ist kein ›Geschöpf‹ mehr, sondern Prometheus’ Kind, der kritisch sich selbst bewusste und reflektierende ›Schöpfer‹ seines Lebens. »Der bestirnte Himmel über uns«, schreibt der ältere Beethoven in eines seiner Konversationshefte, »und das Sittengesetz in uns, Kant!!!« An der Seite der Berechnungen des Franzosen Pierre-Simon Laplace gilt Kants Theorie von der Entstehung der Planeten und des All in der Astronomie bis heute; Beethoven hat die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) wohl als einzige von Kants Schriften definitiv gelesen und sich in seinem Tagebuch Stellen herausgeschrieben. Kant entzaubert den Himmel, die katholische Kirche setzt ihn auf den Index, der Adel verachtet ihn. Der Musikschriftsteller Guiseppe Carpani nennt Beethoven in seiner Haydn-Biografie von 1823 den »Kant der Musik« (Franz Michael Maier).

      Tor, wer die Augen blinzelnd dorthin richtet,

      Sich über Wolken seinesgleichen dichtet;

      Er stehe fest und sehe hier sich um;

      Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.

      Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!

      Was er erkennt, lässt sich ergreifen.

      So Goethes Faust, die Epoche machenden Gedanken in Poesie verwandelnd. Gott wird vom geistigen Körperteil zur mehr oder minder frei gewählten Weltanschauung, vom Dogma zur offenen Frage. Beethoven, wie alle Geistesmenschen dieser Zeit, befasst sich intensiv mit orientalischer, fernöstlicher Dichtung. Die Welt, so ein Eintrag in seinem Tagebuch, ist entstanden durch den »Zusammenlaut der Atome des Akkords«. Worte wie »unwandelbarer Ursprung« kritzelt er in sein Büchlein. Es fällt schwer, hinter der von der Wissenschaft täglich überzeugender beschriebenen, unfassbar harmonischen Einrichtung des – leider nicht unberührbaren – Akkords der Natur keine wie immer geartete höhere Vernunft zu vermuten. Felix Mendelssohns Vater, sechs Jahre jünger als Beethoven, bringt es in einem Brief an seine Tochter Fanny auf den Punkt:

      Ob Gott ist? Was Gott sei? Ob ein Teil unserer Selbst ewig sei und, nachdem der andere Teil vergangen, fortlebe? und wo? und wie? – Alles das weiß ich nicht und habe Dich deswegen nie etwas darüber gelehrt. Allein ich weiß, dass es in mir und in Dir und in allen Menschen einen ewigen Hang zu allem Guten, Wahren und Rechten und ein Gewissen gibt, welches uns mahnt und leitet, wenn wir uns davon entfernen. Ich weiß es, ich glaube daran, lebe in diesem Glauben und er ist meine Religion.

      Die Aufklärung wird in der französischen Revolution zur materiellen Gewalt. Die tausendjährige Lufthoheit der Religion über die Köpfe und Herzen Europas erodiert. »Man war vielleicht bisher gewohnt, unter Köln sich ein Land der Finsternis zu denken, in dem die Aufklärung noch keinen Fuß gefasst«, schreibt ein Zeitgenosse nach einem Besuch. »Köln«, das ist das Kurfürstentum mit seiner Residenz Bonn. »Man wird aber ganz anderer Meinung, wenn man an den Hof des Kurfürsten kommt. Besonders an den Kapellisten fand ich ganz aufgeklärte, gesund denkende Männer.« Die Mitglieder der offensichtlich exzellenten Bonner Hofkapelle, unter ihnen so namhafte Musiker wie der Flötist Antonin Reicha, der Hornist und nachmalige Verleger Nikolaus Simrock und der Geiger Franz Anton Ries, sind die Ersten, die das berufliche Selbstbewusstsein ihres ehrgeizigen jungen Orchesterkollegen stärken. Sie bewundern ihn für sein virtuos phantasievolles Klavierspiel; es wird von Zeitgenossen als kraftvoll, brillant und besonders ausdrucksstark, von auf den eher geschmeidig süßen Zeitgeschmack orientierten Anderen als »grob« und »rauh« beschrieben.

      In Gesellschaft wappnet er sich mit oft schroffem Selbstbewusstsein. Aber tief innen ist er timide und allein. Die Kindheit war kein Honigschlecken. Die Schulbildung unvollkommen. Der Vater keine Stütze, eher ein Sorgenkind. Jung und unbeschwert? Sind vielleicht andere. Halt, Trost, Schutz und einen Lebenssinn findet er in der Musik. Da merkt er, dass es lohnt, sich zu schinden und mit sich zu kämpfen für die beste Lösung, Stärke zu entwickeln und eine Überlegenheit, die nichts mit Herrschaft zu tun hat, aber mit Guttun. Er spürt, dass seine Art zu musizieren andere rührt und aufregt, das tut gut. Die anderen tun ihm gut. Und er hat etwas zurückzugeben, die Musik ist gut für ihn, er beherrscht sie. In ihr darf er im schönsten und besten Sinn heftig und ungezügelt sein. Nichts ist da glatt. Auch die Perfektion seiner Werke, ihre Vollkommenheit, wenn er gereift sein wird, wird nicht glatt sein. Das Krude, Ungebärdige erlöst in seiner Musik nur ganz erstaunliche Energien. Und fügt sich zu immer neuen Gestalten von bis dahin ungekannter Schönheit und einer Tiefe und Süße, der die Dunkelheiten und Schmerzen der Kindheit und Jugend kaum anzumerken sind. Ein unfassbar richtiges Maß findet er nur in der Musik. Sein Wesen wird in vielem auf hilflose Art maßlos bleiben – Gott und Weltkind in einem.

      Geselligkeit

      Wo man Beethoven in den letzten Bonner Jahren am ehesten findet? Im »Zehrgarten« am Markt 8. Hier trinkt der junge Künstler seinen Wein, man kann dort Kleinigkeiten essen; in Gestalt einer kleinen Buchhandlung hat die Witwe und Wirtin Anna Maria Koch im intellektuellen Mittelpunkt Bonns auch für geistige Wegzehrung gesorgt. Die Studenten der neu gegründeten Universität verkehren hier, Professoren, radikale Intellektuelle wie Neefe und Eulogius Schneider. Ein Umschlagplatz kritisch dissidentieller Ideen, Beethoven saugt sie auf wie ein Schwamm. Und findet dort noch etwas, für das er ein Leben lang brennt: das schöne Geschlecht. Anna Barbara Koch, genannt Babette, eine der beiden Töchter des Hauses, ist ein Jahr jünger als er. Das hübscheste Mädchen der Stadt. Kaum wohl ist er ihr nahegekommen. Aber