Eric Clapton. Ein Leben für den Blues. Peter Kemper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Kemper
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783159616612
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Eric und ich nur sechs Wochen eigentliche Kriegszeit miterlebt haben, wirkten die Folgen noch zehn Jahre lang nach. In Großbritannien war diese Zeit ganz besonders schlimm: Einsparungen, Kürzungen, Stromausfälle, Streiks. Die ganze Zeit über schien es zu regnen. Kein Wunder, dass wir in den 60er Jahren alle verrücktspielten.

      Sieg und Sorgen: Auch nach dem Krieg gab es noch Lebensmittelmangel in Großbritannien.

      Noch bis Ende der 1950er Jahre gab es in England Lebensmittelrationierungen für Zucker, Eier, Fleisch, Tee, Käse und Brot. Laut Keith Richards erklärte sich allein durch die langanhaltende Zuckerrationierung, »warum viele von uns so dünn sind«. Die meisten jugendlichen Briten erlebten ihr Heimatland damals als grau und langweilig. Die Düsterkeit in Kombination mit dem sprichwörtlich schlechten Wetter gerann zu einem Stereotyp. Jack Bruce erinnert sich mit Grausen an seine Jugend in Glasgow: »Es gab damals keine Farben in Großbritannien. Alles wirkte grau und verwaschen, um vier Uhr wurde es dunkel.«

      Obwohl der stolze Inselstaat Hitler besiegt und die Demokratie verteidigt hatte, galt das Land nach dem Zweiten Weltkrieg als »der kranke Mann Europas«: ein kleines Land mit zerstörten Fabriken, kulturell ausgezehrt, in geistiger Enge gefangen, finanziell impotent und irgendwie zweitklassig. England hatte seinen Platz in der Welt noch nicht wiedergefunden. Zusätzlich nahm jener Entkolonisierungsprozess ab 1947 seinen Anfang, der das britische Empire massiv schrumpfen ließ. Erst diese ökonomische und kulturelle Kraftlosigkeit des Landes führte dazu, dass britische Jugendliche in den Folgejahren auf eine geradezu verzweifelte Suche nach Abenteuer und Exzessen gingen. Nach Ansicht des amerikanischen Folkmusik-Sammlers Alan Lomax war dieser globale Machtverlust Großbritanniens in Verbindung mit dem englischen »Klassen- und Kasten-System«, langweiligen Jobs und fehlendem Geld, im Kern dafür verantwortlich, dass britische Jugendliche sich mit verrufenem Rock ’n’ Roll, oder noch extremer: mit verpönten »Negro-Prison-Songs« so rückhaltlos identifizierten. Weil England sich im europäischen Vergleich als leistungsschwacher Nachzügler entpuppte, konnte Pete Townshend später von einem »besonderen Nachkriegsgefühl des Versagens« als seiner ureigensten Antriebsfeder sprechen.

      Familiendramen und frühe Verzweiflung

      Pat hielt es nur zwei Jahre bei ihrem Sohn in Ripley aus. Die Leute ließen sie spüren, dass sie eine ›Gefallene‹ war. An der Methodistenkirche des Ortes prangte schon bald die Aufforderung »Hau ab, PC, du Hure!«. Doch so schnell ließ sich Pat nicht einschüchtern, und erst nachdem sie sich 1947 mit dem ebenfalls aus Kanada stammenden Soldaten Frank McDonald verlobt hatte, kehrte sie ihrem inzwischen ungeliebten Heimatort den Rücken.

      Als sie 1954 nach England zurückkehrte, brachte sie natürlich Geschenke für ihren Eric mit. Der war zunächst auch ganz begeistert von der knallig bunten Seidenjacke mit dem aufgestickten Drachen sowie den wundervoll verzierten Holzschachteln, die Frank seiner Frau aus dem Koreakrieg mitgebracht hatte. Doch irgendetwas stimmte nicht. Schon seit Längerem, nicht erst seitdem auf dem Schulhof darüber geredet wurde, dass er irgendwie ›anders‹ sei, hegte Eric einen Verdacht. Immer wieder hatte er bei Familienfeiern und Verwandtenbesuchen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, die ihn daran zweifeln ließen, dass er wirklich der leibliche Sohn von Rose und Jack war. Warum hätte seine Tante Audrey auch mit schöner Regelmäßigkeit bei Rose im Flüsterton nachfragen sollen: »Gibt’s was Neues von seiner Mutter?« Und warum nannte sein großer Bruder Adrian, der in Wahrheit sein Onkel war, ihn am liebsten »Little Bastard«?

      Nachdem Pat mit ihren beiden Kindern für die nächsten zwölf Monate in das Landhäuschen von Rose und ihrem Mann eingezogen war, sollte Eric schnell spüren, welch leeren Kulissenzauber man all die Jahre für ihn aufgeführt hatte: Pat musste seine leibliche Mutter sein, und sie war ja – wenn auch spät – zu ihm zurückgekehrt. Für ein paar Wochen stand die Wahrheit unausgesprochen im Raum. Rose und Jack hegten schon die Hoffnung, Eric hätte sich inzwischen mit den Umständen arrangiert und würde seiner Mutter keine Szene mehr machen. Doch eines Abends platzte es aus ihm heraus: »Pat, darf ich dich jetzt Mama nennen?« Der Augenblick betretenen Schweigens, der sich immer mehr in die Länge zog, dürfte auf Eric wie eine qualvolle Ewigkeit gewirkt haben. Schließlich überwand Pat die Verlegenheit und erklärte ihrem Sohn, den sie nur Rick nannte, in freundlich-sachlichem Ton: »Ich glaube, es ist am besten, wenn du deine Großeltern – nach allem, was sie für dich getan haben – weiterhin Mama und Papa nennst.« Beinahe über Nacht wurde aus dem aufgeweckten Jungen ein mürrischer, verbitterter Mensch: »Ich hatte erwartet, sie würde mich freudig in ihre Arme schließen und dass sie von jetzt an bei mir bleiben würde.« Doch seine Mutter dachte nicht daran, ihn nach Kanada mitzunehmen. Fortan sollte Eric seiner gesamten Umgebung misstrauen – seine Großeltern eingeschlossen. Und es begann für ihn der lange Weg der Selbsterforschung, der schmerzlichen Suche nach einer eigenen, unverbrüchlichen Identität.

      Jene »emotionale Verarmung«, die er später für seine Liebe zum Blues, insbesondere für seine unbedingte Identifikation mit Robert Johnson verantwortlich machen sollte, nahm hier ihren Anfang. Erst durch sein Trauma des frühen Verlassenwordenseins sah er sich zeitlebens nicht nur autorisiert, den Schmerz des Blues zu verstehen, sondern auch dazu legitimiert, seiner Verzweiflung öffentlichen Ausdruck zu verleihen. Musik wurde für ihn zu einer Art Selbsttherapie: »Jetzt fühlte ich mich nicht mehr, als besäße ich keine Identität, und als ich das erste Mal Blues hörte, kam es mir so vor, als würde meine Seele weinen. Ich identifizierte mich unmittelbar damit.« Erst der Blues habe ihm erlaubt, mit seinen widerstreitenden Gefühlen Frieden zu schließen und ihm eine Art »einsamen Mut und Stolz« vermittelt, die Unbeugsamkeit »eines Mannes mit seiner Gitarre, vollkommen allein, ohne andere Möglichkeiten, seinen Schmerz zu lindern als durch Spielen und Singen.«

      Die klassische Psychoanalyse kennt den Begriff der ›Verlassenheitsneurose‹, der die seelischen Leiden von Menschen umschreibt, die durch eine frühe Erfahrung des Verlassenwerdens verletzt worden sind. Der Schweizer Trauma-Forscher Daniel Dufour erklärt, welche Reaktionen diese »Verlassenheit« bei den Betroffenen auslösen kann: »Tatsache ist, dass es einem Menschen sehr schwerfällt, sich einzugestehen, dass er verlassen wurde. Er schämt sich sehr dafür, so etwas erlebt zu haben und fühlt sich obendrein selbst dafür verantwortlich.« Mangelndes Selbstwertgefühl und eine nicht eingestandene Bindungsunfähigkeit sind oft die Folgen.

      Gleichwohl hat Clapton später wiederholt betont, seine Kindheit sei nicht vollkommen unglücklich verlaufen. Seine Großeltern hätten immer versucht, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen und ihm eine solide Erziehung geboten. Was Kleidung und Spielzeug anging, habe er sich auch nie hinter seinen Altersgenossen verstecken müssen. Seine Oma Rose wurde von allen als kleine, quicklebendige Person geschildert, mit einem pragmatischen Zug, die sich mit ihren 39 Jahren hingebungsvoll der Versorgung ihres Enkels widmete. Auch ihr warmherziger Ehemann, der mit seinen vielen Talenten als Zimmermann, Maurer und Stuckateur selbst in der harten Nachkriegszeit für ein regelmäßiges Einkommen sorgen konnte, war ganz vernarrt in den kleinen Eric. Mit seinem schnörkellosen Realitätssinn verkörperte Jack den Prototypen des ›ehrlichen englischen Arbeiters‹. Und die beiden verwöhnten ihren Enkel nach Strich und Faden. Während Rose ihm wöchentlich seine Lieblings-Comics kaufte und sicherstellte, dass es ihm nie an Süßigkeiten fehlte, bastelte Jack jede Menge Holzspielzeug für den kleinen Eric.

      Sie kauften ihm auch einen schwarzen Labrador, den der Junge »Prince« nannte. Am liebsten tollte Eric mit ihm auf den Fuzzies herum. Hier graste auch ein Pony, und Eric entwickelte ein besonders enges Verhältnis zu Tieren. Im Januar 1950 war er in die Church of England First School aufgenommen worden: ein im Innern düsterer Ort, an dem sich die etwa 60 Kinder in ihren Schuluniformen, also in kurzen grauen Hosen, grauen Socken, einem blauen Hemd und Pullover, in ungeheizten Räumen versammeln mussten. Erics zunächst passable Leistungen in Englisch, Religion, Geografie (Mathe war nie seine Sache) und vor allem in Kunst ließen schlagartig nach, als er das Geheimnis um seine Mutter gelüftet hatte. Seine ohnehin vorhandene Schüchternheit wurde jetzt noch schlimmer. Da es in Großbritannien damals noch keine Sexualerziehung in der Schule gab, und die Geheimnisse der Pubertät auch im Elternhaus nur selten gelüftet wurden, waren Eric und seine Freunde darauf angewiesen, sich allein durch Hinweise und Bilder in