Kurz vor meiner Geburt hatten sich meine Eltern auf zwei Vornamen geeinigt: Am liebsten hätten sie mich Katharina genannt, wie Katharina die Große und Starke. Aber das Mädchen, das an einem Julitag etwas zu früh den Bauch seiner Mama verließ, war zu schmächtig und zart für diesen mächtigen Vornamen. Also wurde ich Zoe genannt, griechisch für »Leben«.
Nun stand ich breitbeinig auf diesem schaukelnden Motorboot mitten im Mittelmeer, kurz vor meinem 21. Geburtstag, und sicherte Schlauchboote von in Not geratenen Menschen. Was mich wohl in den kommenden Tagen noch erwartete?
Bis ein Boot mit achtzig oder hundert Insassen fertig »geshuttlet« ist, können bis zu zwei Stunden vergehen. Doch während meiner ersten Einsätze verging die Zeit wie im Flug. Als die letzte Fuhre mit Geretteten Kurs auf die Iuventa nahm, rief mir Mateo etwas zu, was ich nicht sofort verstand.
»Zeit zum Trinken!«, wiederholte er, öffnete weit den Mund und setzte als ein Zeichen den Daumen an. Er erinnerte mich, dass wir Flüssigkeit zu uns nehmen sollten, wie aufmerksam von ihm! Bei den Vorbereitungstrainings wurden wir ausdrücklich gewarnt, weder zu trinken oder zu essen, wenn die Flüchtlinge auf den Booten saßen und uns sehen konnten – aus Rücksicht, aber auch zur eigenen Sicherheit. Erst jetzt merkte ich, wie aufgeheizt mein Helm und wie ausgetrocknet meine Kehle war. Die Sonne hatte richtig Power, obwohl es nicht mal 10 Uhr morgens war.
»Gute Idee, das mit dem Trinken!«, rief ich zurück und hob ebenfalls meinen Daumen zum Mund. Wir holten jeder unsere Wasserflasche aus dem wasserdichten Rucksack, den man stets bei sich hatte.
Wie oft wir uns das Trink-Zeichen an diesem Tag noch gaben, kann ich nicht sagen. Irgendwann hört man auf, die Einsätze zu zählen. Wir hatten reichlich zu tun, sowohl an diesem ersten Tag wie auch in den verbleibenden zweieinhalb Wochen, in denen Tausende Flüchtende gerettet werden konnten, bevor sie von anderen Schiffen an einen sicheren europäischen Hafen gebracht wurden.
So jedenfalls sah unsere Hoffnung aus.
Couscous und Gummibärchen
Meine Kabine lag auf dem untersten Deck, tief im Bauch der Iuventa, neben dem Maschinenraum. Obwohl ich keine Platzangst habe, reiße ich mich nicht darum, in einem fensterlosen Raum zu übernachten. Aber an diesem langen Tag, nachdem wir gefühlt über zehn Boote gerettet hatten, genoss ich es, in der stillen und dunklen Kammer meine Beine auszustrecken. Mateo und ich durften eine Pause einlegen, bevor der nächste Rettungsalarm losging. Denn die Sonne war noch lange nicht untergegangen.
Ich musste eingedöst sein, als mich ein sanftes Klopfen auf die Schulter weckte. Es war Lena: »Wir brauchen ein paar helfende Hände in der Küche.«
Wahrscheinlich war das Rhib noch dabei, die Geretteten auf andere Schiffe zu verteilen. Ich rechnete damit, dass wir für höchstens dreißig bis vierzig Übriggebliebene Essen zubereiten mussten.
Als ich auf das offene Deck hinaustrat, wurde ich vom Sonnenuntergang geblendet. Ich blinzelte – erst beim zweiten Hinsehen begriff ich, dass es die golden schimmernden Rettungsdecken waren, die das Licht reflektierten. Wohin mein Blick auch reichte – Körper neben Körper auf dem nackten Deck, notdürftig gewärmt von den glänzenden Rettungsfolien.
Die Hitze hatte abgenommen und eine auffrischende Abendbrise wehte mir entgegen. Hatte ich so lange geschlafen, dass noch mehr Boote gerettet wurden, und zwar ohne die Lilly? Wieso waren hier so viele Menschen?
»Sind viele neue Flüchtlinge dazugekommen?«, fragte ich Lena.
»Nein, sieht nur so aus. Es haben sich noch keine Schiffe gemeldet, die unsere Leute nehmen können. Erst wenn unsere Schiffsgäste länger als ein paar Stunden bei uns an Bord bleiben, müssen wir kochen. Alles andere wäre viel zu aufwendig. Wir sind nur ein Erstversorgungsschiff.« Es gefiel mir, dass Lena die geretteten Flüchtlinge als Schiffsgäste bezeichnete. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ich auch nach zwei Tagen auf der Iuventa immer noch nicht wusste, dass jeder Mensch, der in friedlicher Absicht unser Schiff betritt, den Status eines Gastes hat. In Deutschland war nur der Begriff »Flüchtling« geläufig, fast wie in Stein gemeißelt wurde er verwendet – ob ich das für mich ändern konnte?
Die Schiffsküche lag ein Stockwerk tiefer als die Brücke, aber auf der gleichen Ebene des Hauptdecks. Um zu ihr zu gelangen, mussten wir einmal das Deck überqueren. Aber wo trat man hin? Überall saßen oder lagen Frauen, Kinder, Männer, erschöpfte Menschen mit ausgestreckten Armen und Beinen, dicht nebeneinander. Lena merkte mein Zögern und flüsterte mir zu: »Komm, ich gehe vor.«
»Hallo! Hi! Wie geht’s euch?«, bahnte sie sich lächelnd den Weg, und siehe da – die Menschen lächelten müde zurück und machten Platz, wir kamen vorwärts. Während ich zwischen abgestützten Händen, nackten Füßen und angewinkelten Beinen balancierte, versuchte ich, irgendein Gesicht wiederzuerkennen. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass mir das nicht gelang. Dabei hatte ich doch bei allen Booten höllisch aufgepasst, dass keiner ertrinkt, und auch beim Umsteigen aufs Schiff habe ich vielen der Personen, die jetzt hier saßen, die Hand hingehalten. Wieso erkannte ich keinen einzigen Gesichtszug? Hatte ich etwa einen eurozentrischen Blick, sahen für mich alle Menschen aus Afrika gleich aus? Das beunruhigte mich.
»Das geht vielen so!«, erklärte mir Lena, als ich ihr beim Kochen davon erzählte. »Das ist eine normale Reaktion. Unser Gehirn ist darauf getrimmt, in extremen Situationen nur das wahrzunehmen, was Vorrang hat. Das ist unsere Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.« Eine plausible Erklärung, die mich entlastete. Man sah, dass meine Mitbewohnerin viel Erfahrung in der freiwilligen Rettungsarbeit hatte. Sobald Zeit wäre, würde ich sie fragen, wo sie schon überall gearbeitet hat. Ich wusste nur, dass sie keine Erfahrung mit Schiffen hatte und dies ihre erste Mission auf der Iuventa war.
Trotz ihrer Erklärung fühlte ich mich unwohl. Ich sah zwar ein, dass es unmöglich war, auf das Gesamtwohl von hundert Schiffbrüchigen zu achten und sich dabei jedes einzelne Gesicht zu merken. Aber es erschreckte mich, dass in der kollektiven Not das Individuelle derart verschwand.
War es damals meiner Oma auch so ergangen, als sie im Herbst 1945 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus ihrer Heimat fliehen musste? Waren die drei mit ihren geflochtenen Zöpfen und ihrem einzigen Fluchtrucksack ebenfalls in der namenlose Masse der Flüchtlinge untergegangen? Wenn ich wieder in Deutschland war, musste ich sie danach fragen.
Lena hatte in der Zwischenzeit einen großen Pappkarton geöffnet, in dem mindestens zwanzig Packungen Couscous waren. Erst jetzt realisierte ich, dass diese Unmengen an Weizengrieß darauf warteten, von uns zubereitet zu werden. Hatten wir überhaupt so große Töpfe? Und würden wir das alles auf einmal kochen? Später wurde mir klar, warum Couscous auf den Rettungsschiffen so gern zubereitet wird – weil es in diesen Breitengraden ein sehr beliebtes Gericht ist, das schnell satt macht und gut verdaulich ist. Wir wollten den geretteten Menschen wenigstens ein kleines Stück Normalität ermöglichen.
»Servus!«, ertönte hinter uns eine Männerstimme. Das war der Zweite Maschinist, unser Österreicher, der gerade zur rechten Zeit aufgetaucht war, einen großen Emaille-Topf in jeder Hand. Er war in Malta erst kurz vorm Ablegen des Schiffs zur Crew gestoßen, deswegen hatten wir noch keine Gelegenheit gehabt, uns persönlich kennenzulernen.
»Die Töpfe findest du in der Vorratskammer da hinten«, erklärte er mir. »Die holen wir nur an solchen Tagen wie diesem hervor.« Er stellte die Töpfe in die große Spüle, füllte sie mit Wasser und wuchtete sie auf den Herd. »Ich bin übrigens der Ötzi, ja genau, wie der Mann aus dem Eis. Keine Sorge, im Pass steht was anderes. Und du bist?«
»Zoe! Servus!«
»Des is deine erste Mission, oder? Ich