Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Urbaniok
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783280090916
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weggefiltert, um die Möglichkeiten unserer Informationsverarbeitung nicht zu überfordern.

      Nun dürfte es aus Sicht der Evolution eine Frage gewesen sein, ob die unterhalb der Bewusstseinsschwelle registrierten Informationen komplett verloren gehen oder auf einem subtilen Weg nicht doch – stereotyp, automatisiert und auf gut Glück – wieder in Beurteilungsprozesse und Verhaltensweisen einfließen sollen. Man kann sich gute Gründe dafür vorstellen, warum die Evolution das so eingerichtet hat – und zwar vor allem dann, wenn die Information in enger zeitlicher Nähe zu einer Beurteilung oder einem Verhalten steht. Auch hier wird es durch diesen Mechanismus oft zu verzerrten oder falschen Beurteilungen und unsinnigen Verhaltensweisen kommen. Aber darauf kommt es gar nicht an. Denn es geht nur darum, in einigen wenigen Fällen fatale Konsequenzen zu verhindern, weil eine entscheidende Information verpasst wurde.

      Die Mechanismen der Reduktion von Komplexität und der Generalisierung lassen sich in nahezu allen psychologischen Urteilsfehlern nachweisen. So führt zum Beispiel der Halo-Effekt gleichermaßen zur Generalisierung (einer Beurteilung) und zur Reduzierung von Komplexität (Vermeidung von Heterogenität). Der Rückschaufehler entspricht der Reduzierung von Komplexität.

      Alle diese Mechanismen haben auf subjektiver Ebene eine Fülle positiver Wirkungen. Sie vermitteln das Gefühl, die Welt zu verstehen und dadurch Kontrolle über die Umwelt zu haben. Es findet damit eine Immunisierung gegenüber den Gefahren statt, die mit der Weiterentwicklung des Verstandes und des Bewusstsein verbunden sind. Der stark weiterentwickelte Verstand soll nicht zu Verunsicherung, Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit führen. Im Gegenteil ist etwas Selbstüberschätzung sogar vorteilhaft. Deswegen macht es aus Sicht der Evolution Sinn, die starke Ausweitung des Verstandes mit einer Vielzahl von Stoßdämpfern zu versehen, um die damit verbundenen Risiken zu reduzieren. Der Preis sind Mechanismen, die zu verzerrten und falschen Beurteilungen und entsprechenden Handlungen führen – all das aber mit einem subjektiv guten Gefühl. Denken wir daran, von welchem der beiden Urmenschen wir abstammen. Nicht von dem Neugierigen, der die Welt differenziert erforschen und erkennen wollte.

      Aus einer aufklärerischen Perspektive sind die Mechanismen, die er uns vererbt hat, problematisch. Man kann auch fragen, ob sie im 21. Jahrhundert noch die Berechtigung haben, die sie vielleicht vor 50 000 Jahren hatten. In jedem Fall ist es aber sinnvoll, sich mit diesen Mechanismen und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Denn ohnehin sind sie nicht zu eliminieren. Aber sowohl individuell als auch gesellschaftlich kann es gelingen, negative Folgen zu begrenzen. Aus einer aufklärerischen Haltung heraus ist zu sagen: Das muss gelingen. Aber selbstverständlich ist das keineswegs. Gerade in den westlich orientierten Demokratien, die sich eigentlich den Grundgedanken der Aufklärung verbunden fühlen, zeigen sich in Politik, Medien, Ökonomie und Wissenschaft genau gegenteilige Tendenzen. Die evolutionär mit einer anderen Zielsetzung geschaffenen Fehlerquellen werden genutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Produkte zu verkaufen oder um Politik zu machen (vgl. Kap. 15).

      4.3Kooperation versus egoistische Abgrenzung

      Man kann die evolutionäre Ausgangssituation auch noch unter einem anderen Blickwinkel betrachten. Ein großes Potenzial der Vernunft für die menschliche Entwicklung erschließt sich durch Kooperation. Wie schon die Affen ist auch der Mensch stark auf das soziale Miteinander in einer Gruppe orientiert. Die Vernunft erlaubt es dem Menschen, soziale Funktionsräume zu erschaffen, die das Leistungsvermögen und die Fortentwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen bei Weitem übertreffen. Diese Möglichkeiten wurden durch die Entwicklung der menschlichen Vernunft in nie zuvor erreichte Dimensionen gesteigert. Aber genau hierin liegt aus evolutionärer Sicht auch eine Ambivalenz.

      Sie beginnt mit der Weiterentwicklung des Bewusstseins. Sich seiner selbst bewusst zu sein und sich als Individuum zu verstehen, ist ein Erleben, das durch Abgrenzung von der Umwelt und anderen Lebewesen konstituiert wird. Ein darauf aufbauender Selbstbehauptungstrieb muss sich in der subjektiven Wahrnehmung zunächst auf sich selbst fokussieren. Es kommt hinzu, dass andere Menschen nicht nur potenzielle Kooperationspartner sind. Gerade weil der Mensch keine anderen natürlichen Feinde hat, ist ein anderer Mensch die einzig relevante Gefahrenquelle durch ein anderes Lebewesen. Ein anderer Mensch positioniert sich somit theoretisch im Spannungsfeld zwischen potenziellem Verbündeten und existenzgefährdendem Feind.

      Diese Grundproblematik hat die Natur auch schon vor der Existenz des Menschen bei vielen Spezies gelöst. Wir kennen das Prinzip des Rudels, der Herde, des Schwarms, der Paarbeziehung oder der Gruppe (zum Beispiel bei Affen). Das Prinzip ist immer das gleiche. Es gibt eine soziale Ordnung innerhalb der Gruppe. Das heißt, es gibt Regeln, nach denen sich das Verhalten des Einzelnen ausrichtet. Diese Regeln gewährleisten die Funktionsfähigkeit der gesamten Gruppe. Wie erwähnt lässt sich die menschliche Entwicklung so charakterisieren, dass sie sich weg von stereotypen Instinkthandlungen hin zu mehr Variabilität und mehr Entscheidungsspielraum des Einzelnen bewegt hat. Die meisten von uns kennen das Gefühl, anderen Menschen durch partnerschaftliche, freundschaftliche, familiäre Bande oder auch nur durch Sympathie verbunden zu sein. Das sind Ausdrucksformen unseres Potenzials, uns in Gemeinschaft mit anderen Menschen wohl zu fühlen und Teil eines sozialen Gebildes zu werden, das auf Kooperation ausgerichtet ist. Diese Fähigkeit zu kooperativem Empfinden steht allerdings in einem Spannungsverhältnis zum egozentrisch auf die eigene Selbstbehauptung ausgerichteten Selbstbewusstsein. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen demonstrieren. Selbst tiefe Liebesbeziehungen oder starke familiäre Bande verhindern nicht, dass es immer wieder Phasen individuellen Unbehagens oder wüster Konfrontationen gibt. Die Spitze des Eisbergs dieses Phänomens ist der Umstand, dass es sich bei vielen Tötungsdelikten um Beziehungsdelikte handelt.

      Nietzsche nennt diese menschliche Bestrebung den Willen zur Macht, der auf dem biologischen Prinzip der Selbstbehauptung aufgebaut ist (vgl. Kap. 9.4). »Selbstbehauptung« klingt nach einer einsamen Sache, bei der sich der Einzelne gegen alle Widrigkeiten und konkurrierende Mitmenschen durchs Leben schlägt. Aber der Wille zur Macht bzw. die Ausübung von Macht kommt oft gerade nicht alleine, sondern durch die Führung oder die Beeinflussung einer Gruppe zum Ausdruck. Sie hat dann die Form einer sozialen Interaktion, denn die Beziehungen zu anderen Menschen müssen keineswegs zwangsläufig Ausdruck unseres Kooperationspotenzials sein. Das Kooperationspotenzial ist immer dadurch gekennzeichnet, eigene Bedürfnisse und Ansprüche zumindest teilweise gegenüber legitimen Bedürfnissen und Ansprüchen anderer Menschen/Lebewesen zu relativieren. Häufig gibt es dafür emotionale Korrelate, indem wir ein positives Gefühl der Bindung zu anderen Menschen oder einer Gruppe empfinden (z. B. Liebe, Freundschaft, Sympathie). Auch die Vernunft kann ein tragfähiger Boden für Kooperation sein. Dies, indem ein Individuum erkennt, dass Kooperation für alle Beteiligten nützlich ist und das eigene Verhalten deshalb kooperativ ausrichtet. Aus dem Gesagten wird deutlich, dass die Instrumentalisierung von Beziehungen, Manipulation oder ein vor allem auf Kontrolle anderer Personen oder Gruppen ausgerichtetes Handeln, keine Verhaltensweisen sind, die unserem Kooperationspotenzial entsprechen. Es handelt sich vielmehr um Formen von Machtausübung im Kontakt mit anderen Menschen. Deren Quelle ist nicht das menschliche Kooperationspotenzial, sondern der entgegengesetzte Pol: die egoistische Selbstbehauptung.

      Das Kooperationspotenzial der menschlichen Natur basiert vor allem auf der Bindungsfähigkeit gegenüber anderen Menschen. Die bereits erwähnten emotionalen Korrelate der Bindung sind zum Beispiel als Liebe, Freundschaft, Verbundenheit, Zuneigung oder Sympathie spürbar. Genau genommen ist Bindungsfähigkeit eine universelle menschliche Disposition und keineswegs nur auf andere Menschen begrenzt. Sie kann mit den gleichen emotionalen Korrelaten gegenüber anderen Lebewesen (Tieren oder Pflanzen) oder auch unbelebten Dingen zum Ausdruck kommen. Dass das Ziel der Bindungsfähigkeit variabel ist, zeigt sich an der Beziehung, die manche Menschen zum Beispiel zu ihrem Auto oder zu virtuellen Figuren entwickeln können. Die beginnende Verbreitung von menschlich wirkenden Puppen als Ersatz für menschliche Partner zeigt, dass Bindungsfähigkeit eine menschliche Grunddisposition ist, die sich sehr flexibel auf verschiedene Objekte ausrichten kann. Die Bindungsfähigkeit ist im Übrigen wieder ein Element, das sich in der Natur bereits bei vielen Lebewesen zeigte. Wer je