Darwin schlägt Kant. Frank Urbaniok. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Urbaniok
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783280090916
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die schematische Ansicht eines Hauses mit einer offenen Tür. Die Betrachter sehen ein aggressives großes Dreieck, das ein kleineres Dreieck drangsaliert, einen verschreckten Kreis, wobei sich der Kreis und das kleine Dreieck verbünden, um den Rüpel zu überwältigen; sie sehen auch viel Gezerre an einer Tür und dann ein explosives Finale. Der Eindruck von Absicht und Emotionalität ist unwiderstehlich; nur Menschen, die an Autismus leiden, erleben dies nicht. Natürlich geschieht dies nur in unserem Kopf. Unser Gehirn ist nicht nur bereit, sondern regelrecht darauf aus, Akteure zu identifizieren, ihnen Persönlichkeitszüge und spezifische Intentionen zuzuschreiben und ihre Handlungen als Ausdruck individueller Neigungen zu interpretieren.

      Auch hier sprechen die empirischen Befunde dafür, dass wir mit einer Anlage für intentionale Attributionen geboren werden: Schon Säuglinge unter einem Jahr identifizieren Rüpel und Opfer und erwarten von einem Verfolger, dass er den kürzesten Weg nimmt, um das zu fangen, hinter dem er her ist.« [4, S. 102–103]

      Wir sind extrem darauf ausgerichtet, Kausalität und stimmige Geschichten zu konstruieren. Man kann sich leicht vorstellen, warum das sinnvoll ist. In einer Flut möglicher Informationen und Details ist es ein Gebot der Effizienz, nicht jede einzelne Information und jedes einzelne Detail abzuspeichern, sondern nach übergeordneten Mustern zu suchen. In einer kausalen Ordnung, in einer stimmigen Geschichte, in einem erklärenden Muster lassen sich Informationen in ökonomischer Weise verdichten. Neben der Reduzierung von Komplexität vermitteln uns Kausalität und andere identifizierte Muster ein Gefühl von Sinn und Kontrolle. Wir haben Angst, uns in zusammenhanglosen, für uns sinnlosen Informationen und Zufälligkeiten zu verlieren. Deswegen gibt es die starke Tendenz, Informationen und Ereignisse, mit denen wir konfrontiert werden, in ein Muster oder eine runde Geschichte zu zwängen. Wir lieben es, am Schluss etwas Kompaktes, Übersichtliches und Eindeutiges vor uns zu haben, einem Auto gleichend, das in einer Schrottpresse zu einem kompakten Rechteck zusammengedrückt wurde.

      Man weiß, dass das Gehirn uns diese Tendenz vorgibt. Ein Drogenspürhund ist auf das Aufspüren von Drogen ausgerichtet. In ähnlicher Weise sucht unsere linke Hirnhälfte immer und überall nach Mustern. Anders als der Drogenspürhund wird sie aber fast immer fündig. Denn sie kann die vermeintlichen Muster selbst konstruieren und die Informationen so auswählen, formen und interpretieren, dass in der subjektiven Perspektive am Schluss alles zusammenpasst. Auch Neurotransmitter wie zum Beispiel Dopamin unterstützen diesen Prozess. So hilft Dopamin, bestimmte Muster zu fokussieren und dieses eine fokussierte Muster gegen konkurrierende Eindrücke (Muster) abzuschotten. Es begünstigt also eher ein Entweder-oder statt eines Sowohl-als-auch.

      Unsere gesamte psychologische und biologische Programmierung ist darauf ausgerichtet, der Welt Muster, Regeln und vor allem Kausalität überzustülpen. Manchmal werden sie der Wirklichkeit auch halbwegs gerecht. Oft produzieren sie aber nur heiße Luft und nichts anderes als eine Verzerrung, die zwar mit der Wirklichkeit kaum oder gar nicht übereinstimmt, aber sich gut anfühlt.

      2.9Physiognomischer Kurzschluss

      Wie wir gesehen haben, ist unser intuitives System darauf ausgelegt, blitzschnell Beurteilungen vorzunehmen. Das gilt auch für unsere Sicht auf andere Menschen. So konnte gezeigt werden, dass ein starkes Kinn mit Dominanz und ein leichtes, selbstbewusstes Lächeln mit Vertrauenswürdigkeit assoziiert werden. Diese biologischen Automatismen sind weit davon entfernt, zu richtigen Urteilen zu führen. Sie prägen uns aber nach wie vor. In Studien konnten Zusammenhänge zwischen den beschriebenen einfachen biologischen Parametern und späterem Wahlerfolg von Politikern nachgewiesen werden.

      Dieser Zusammenhang scheint insbesondere bei politisch uninformierten Wählern, die sehr viel fernsehen, deutlich ausgeprägt zu sein. In einer Studie war er bei solchen Personen dreimal so stark entwickelt wie bei Personen, die weniger fernsehen und sich besser informieren. [4, S. 119–120]

      2.10Überschätzung geringer Häufigkeiten

      Unser intuitives System kann schlecht mit Zahlen, Maßen, Statistik und Wahrscheinlichkeiten umgehen. Dieser Umstand führt zu typischen Beurteilungsfehlern. Kahneman schildert in diesem Zusammenhang ein Beispiel der Statistiker Howard Wainer und Harris L. Zwerling.

      Es gibt viele Studien, die sich damit beschäftigten, Merkmale zu identifizieren, die erfolgreiche von weniger erfolgreichen Schulen unterscheiden. »Eines der Ergebnisse dieser Forschungen ist«, so Kahneman, »dass die erfolgreichsten Schulen, im Schnitt, klein sind. In einer Studie an 1662 Schulen in Pennsylvania zum Beispiel waren sechs der fünfzig besten Schulen klein, sodass sie vierfach überrepräsentiert waren. Diese Daten veranlassten die Gates-Stiftung dazu, erhebliche Finanzmittel für die Schaffung kleiner Schulen bereitzustellen, gelegentlich auch durch Aufspaltung großer Schulen in kleinere Einheiten. Mindestens ein halbes Dutzend andere bekannte Institutionen […] schlossen sich dem Projekt an […]. Dies erscheint Ihnen vermutlich intuitiv als sinnvoll. Man kann leicht eine kausale Geschichte konstruieren, die erklärt, wieso kleine Schulen bessere Bildungsergebnisse und daher mehr leistungsstarke Schüler produzieren, nämlich dadurch, dass den Schülern mehr persönliche Aufmerksamkeit und Ermunterung durch die Lehrer zuteilwird, als dies in größeren Schulen möglich wäre. Leider ist diese kausale Analyse müßig, weil die Fakten falsch sind. Wenn die Statistiker, die im Auftrag der Gates-Stiftung tätig waren, nach den Merkmalen der schlechtesten Schulen gefragt hätten, hätten sie festgestellt, dass die schlechtesten Schulen ebenfalls unterdurchschnittlich klein sind. Die Wahrheit ist, dass kleine Schulen im Durchschnitt nicht besser sind; sie sind lediglich variabler.« [4, S. 149–150]

      Im Kern geht es um Folgendes: Zufallsbedingte Schwankungen führen in kleineren Stichproben zu erheblich höheren Effekten als in größeren Stichproben. Nehmen wir an, dass im Schnitt einer von 100 Schülern besonders gute mathematische Leistungen erbringt. In der Stadt gibt es eine große Schule mit 500 Schülern, in einem kleinen Dorf auf dem Land eine kleine mit nur 40 Schülern. Ein Elternpaar, beide Mathematikprofessoren, liebt die Natur. Darum zieht es mit seinen vier Kindern aufs Land. Die Kinder sind mathematisch sehr begabt und wurden seit frühester Kindheit stark gefördert. Ihr mathematisches Leistungsvermögen ist außerordentlich. Sie allein katapultieren die Quote für mathematisch besonders starke Schüler in ihrer neuen Schule auf 10 Prozent. Das ist zehnmal mehr als der Durchschnitt im Land. Aber die tolle Quote hat gar nichts mit der Schule zu tun, sondern nur mit der Landliebe der Eltern. In der großen Schule der Stadt wäre der Effekt der vier Kinder lediglich 0,8 Prozent, bliebe also noch unter dem allgemeinen Durchschnitt von 1,0 Prozent.

      In einer kleinen Stichprobe führen »zufällige« Faktoren zu extremen Bewertungen. Deswegen gibt es unter den besten Schulen viele kleine – aber eben auch unter den schlechtesten Schulen sind kleine Schulen überrepräsentiert. Statistisch gesehen handelt es sich um ein Artefakt, weil die Stichprobengröße zu klein ist, um eine verlässliche Aussage zu machen.

      2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen

      Nassim Nicholas Taleb war ursprünglich Finanzmathematiker. Im Libanon geboren, studierte er in den USA und war an verschiedenen Universitäten als Professor tätig. Im Investmentbanking arbeitete er für verschiedene Firmen an der Wallstreet. 2007 veröffentlichte er ein Buch, in dem er vor den Gefahren der Finanzwirtschaft und den gängigen mathematischen Modellen warnte. Anlagen, die nach seinen Empfehlungen investierten, erwirtschafteten in der Finanzkrise 2008 sehr hohe Gewinne. Taleb versteht sich als ein »skeptischer Empirist« und hat sich mit seinen Büchern und wissenschaftlichen Publikationen weltweit einen Namen gemacht. Stark beachtet und in viele Sprachen übersetzt wurde sein Buch über den »Schwarzen Schwan«. [5]

      In diesem Werk setzt sich Taleb damit auseinander, wie anfällig wir dafür sind, insbesondere seltene Ereignisse – die schwarzen Schwäne – vollkommen falsch einzuschätzen. Wir über- oder unterschätzen ihre Häufigkeit, über- oder unterschätzen ihre Wirkungen und produzieren häufig falsche Erklärungen für das Auftreten solcher Ereignisse. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Taleb intensiv mit unserer Tendenz, überall Kausalitäten zu erkennen und vermeintlich stimmige