Was war damals in den zwei Stunden im Olympic Field House von Lake Placid passiert? Wie konnte eine derart glanzvolle Truppe in einem solchen Moment versagen?
Für die Spieler ist die Sache heute klar: Trainer Wiktor Tichonow, ein erfolgsverwöhnter Autokrat und genialer Kopf, hatte nach dem ersten Drittel unmittelbar nach dem Ausgleich der Amerikaner zum 2:2 völlig überraschend seinen legendären Torwart Wladislaw Tretjak vom Eis geholt und den Ersatzmann Wladimir Myschkin rausgeschickt. „Keiner im Team war glücklich über die Entscheidung“, verrät Sergej Makarow Jahre danach. „Tichonow war in Panik geraten. Er hatte sich nicht mehr im Griff.“
Zwar gehen die Sowjets danach im zweiten Drittel mit 3:2 erneut in Führung und fühlen sich zunächst scheinbar sicher. Doch die Amerikaner geben sich nicht geschlagen.
Tichonow gibt hinterher seinen Spielern die Schuld. Sie hätten sich selbst über- und den Gegner unterschätzt, giftet er seine Stars an: „Das ist eure Niederlage. Das ist eure Niederlage.“
Dass die Mannschaft beim Turnier immerhin Silber gewinnt, ist für die Verlierer kein Trost. „Ich habe meine Medaille nicht mehr“, gibt Makarow Jahre danach gegenüber dem amerikanischen Sportjournalisten Wayne Coffey während der Recherchen zu dessen Buch The Boys of Winter zu.51 „Ich glaube, sie ist in einem Mülleimer in Lake Placid gelandet.“
Anders ergeht es der Goldmedaille, die Buzz Schneider mit nach Hause bringt. Er holt sie in den vier Jahrzehnten danach ziemlich oft aus der Vitrine. Und so geht das Verbindungsstück zur Schleife kaputt, mit dem man sich die Memorabilie um den Hals hängen kann.
Kein Problem. Das Wunder ist ja vollbracht. Und das Echo darauf scheint nie wieder abzuebben.
(2021)
48 Ein Begriff, der, wie die New York Times herausfand, bei NBC Sports 1992 während der Sommerspiele von Barcelona von Chefproduzent Terry O’Neil geprägt wurde, um die Praxis zu beschönigen, aufgezeichnete Übertragungen kosmetisch so aufzuwerten und sie so zu präsentieren, als würden sie in dem Augenblick stattfinden.
49 Es war nicht die erste Verfilmung des Jahrhundert-Triumphs. Bereits ein Jahr nach dem Erfolg kam ein Dokudrama mit dem Titel Miracle on Ice ins amerikanische Fernsehen. In der Hauptrolle: der damals bereits 69 Jahre alte Hollywood-Schauspieler Karl Malden (Endstation Sehnsucht, Die Straßen von San Francisco). Ein deutlicher Kontrast zum echten Herb Brooks, der in Lake Placid gerade mal 42 gewesen war. Er wurde in der Neuauflage 2004 fürs Kino von Kurt Russell (Elvis, Die Klapperschlange), der bei den Dreharbeiten im selben Alter war wie Brooks in Lake Placid, sehr viel plausibler als komplexer Charakter auf die Leinwand gebracht. Weshalb die Produktion (Drehbuch: Eric Guggenheim und Mike Rich, Regie: Gavin O’Connor) als einer der 50 besten amerikanischen Sportfilme gilt. Das Werk von 1981 hingegen hinterließ keinen bleibenden Eindruck. Unter anderem auch deshalb nicht, weil er nach Meinung von Kritikern nicht verstanden hatte, die Essenz der Sportart Eishockey einzufangen und die zentralen Figuren erstaunlich hilflos in Karikaturen ihrer selbst verwandelt hatte.
50 In der letzten Phase seines Lebens sorgte Mark Pavelich für neue Schlagzeilen, die so gar nicht in das Image des Eishockey-Helden passten. Im Sommer 2019 wurde er verhaftet, weil er einen Nachbarn körperlich angegriffen hatte, mit dem er auf einem gemeinsamen Angelausflug gewesen war. Er wurde jedoch für nicht verhandlungsfähig erklärt und in eine geschlossene Therapieeinrichtung überstellt. Familienangehörige äußerten die Vermutung, dass er schon länger unter der Gehirnerkrankung Chronische Traumatische Enzephalopathie (CTE) litt, die zu Verhaltensveränderungen führen kann. Er nahm sich im März 2021 das Leben (siehe auch Wie viele kleine Autounfälle über die in den letzten Jahren gereiften Erkenntnisse über die Langzeitrisiken von Sportarten wie Fußball, Football und Eishockey auf Seite 297ff.
51 Wayne Coffey: The Boys of Winter – The Untold Story of a Coach, a Dream, and the 1980 U.S. Olympic Hockey Team, New York, 2005
ALLES NUR THEATER?
Amerikas berühmtester Football-Trainer war der Verfechter eines erbarmungslosen Körperkults. Ein Typ wie geschaffen für den Broadway
Rund eine Stunde ehe im fernen Dallas die Begegnung des Jahres angepfiffen wird, beginnt im Circle in the Square Theatre am New Yorker Broadway ein Rennen gegen die Uhr.
„Viele von ihnen sind Packers-Fans geworden“, sagte der Produzent der Broadway-Produktion neulich über die Schauspieler, die in ihrem neuesten Stück mit dem schlichten Titel Lombardi die Erfolgsgeschichte des berühmtesten Football-Trainers Amerikas erzählen und sie zu einem Publikumserfolg gemacht haben.
Also werden die Mitglieder des Ensembles nach dem letzten Vorhang der Nachmittagsvorstellung wie schon vor zwei Wochen vor dem Spiel um die Conference Championship von der Bühne hasten und sich abschminken, um rechtzeitig in einer der Kneipen in der Gegend einen Platz zu erhaschen und das Ganze im Fernsehen verfolgen zu können. Für sie hat das Spiel nämlich eine besondere Bedeutung: In diesem Jahr haben die Green Bay Packers, zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren den Super Bowl erreicht und greifen mal wieder nach dem schweren Goldpokal, eine Auszeichnung, die man zu Ehren des alten Packers-Trainers Vince Lombardi Trophy nennt52. Also jenes Mannes, den die Schauspieler in Manhattan aus dem altvertrauten Milieu herausgezogen und auf die Bühne gebracht haben.
Halb Amerika steht beim Finale der National Football League still. Mehr als 100 Millionen Amerikaner verfolgen das Spiel live am Bildschirm. So mancher von denen wird in solchen Momenten nostalgisch, nicht nur die Schauspieler am Broadway, die sich dieser Tage beruflich mit der Geschichte des legendären Coachs auseinandersetzen, der vor einem halben Jahrhundert den Profi-Football mit einfachen Spielzügen und schlichten, einpeitschenden Slogans geprägt hatte. Zu seinen Hinterlassenschaften gehören wahre Aphorismen-Klassiker, die heute jedes Kind in den USA kennt. Wie etwa dieser: „Gewinnen ist nicht alles, es ist ein und alles.“
Lombardis Sprüche, mit denen er seine Spieler im Stil eines aufgeblasenen Feldwebels anherrschte, klangen kaltschnäuzig und zynisch zugleich: „Niemand hat jemals wirklich Schmerzen“, sagte der autoritäre Patriarch, dessen kurzkrempiger Hut und dessen dickrandige Brille zum Markenzeichen wurden, seinen verletzten Spielern. „Schmerzen hat man nur im Kopf.“
Die knochenkrachende Sportart konnte nun mal keine Weichlinge gebrauchen. Schon gar nicht in einer Zeit, als in den USA dank Rassenunruhen, Flower Power und dem Krieg in Vietnam die gesellschaftliche Orientierung aus dem Ruder lief. „Ich denke, es gibt nur einen Weg, um Spieler in diesem Geschäft zu trainieren“, sagte Lombardi, der einst unter anderem an der Militärakademie in West Point als Assistenztrainer gearbeitet hatte. „Du musst so hart sein wie das Geschäft.“
Dass die gute alte Zeit romantisiert und ihre erfolgreichsten Repräsentanten zu Überfiguren stilisiert werden, wirkt verstörend und nachvollziehbar zugleich. Schließlich hatte Lombardi, der Sohn italienischer Einwanderer aus Brooklyn, die Packers vom schlechtesten Team der Liga zum unschlagbaren Abonnementssieger gemacht und Green Bay, die kleinste Stadt im Universum der NFL, wo man im Winter während der Saison bei Temperaturen bis zu minus 25 Grad vor ausverkauften Rängen Football spielt, zur Title Town.
Das Theaterstück am Broadway, das auf der 1999 erschienenen Biographie When Pride Still Mattered: A Life of Vince Lombardi von David Maraniss beruht, ist nur ein Teil der Kanonisierung des Mannes, der 1970 im Alter von 57 Jahren an Krebs starb.
Lombardis Vita verlief keinesfalls geradlinig. Er war ein abgebrochener Jurastudent, der mit 26 als Lehrer an einer High-School gelandet war. Dort unterrichtete er Latein, Chemie und Physik. Erst mit 41 fand er seine wahre Berufung. Da übernahm Vince Lombardi eine Position als Assistenztrainer eines New Yorker Profi-Football-Clubs.