Es war – auf seine Art – ein Bombenspiel. Live ausgestrahlt über den Radiosender WMCA-AM, mit dem aufgekratzten Radioreporter Russ Hodges, der die legendär gewordenen Sätze ins Mikrofon brüllte: „There‘s a long drive … it‘s gonna be, I believe … THE GIANTS WIN THE PENNANT!! THE GIANTS WIN THE PENNANT! THE GIANTS WIN THE PENNANT! THE GIANTS WIN THE PENNANT! Bobby Thomson hits into the lower deck of the left-field stands! The Giants win the pennant and they’re goin’ crazy, they’re goin’ crazy! HEEEY-OH!!!“
„Die Giants gewinnen den Titel!“
Solch eine Sportart braucht wohl einen Ort, an dem sich diese Begeisterung und das ferne Echo darauf wie die Parallelen im Unendlichen begegnen. Einen wirklichen Schrein, dessen Besucher sich fühlen, als unternähmen sie eine Pilgerfahrt. Und auch noch daraus lässt sich übrigens lesenswerte Literatur schöpfen. Wie im Fall des Romans Unabhängigkeitstag, in dem der Schriftsteller Richard Ford eine solche Reise zum Hauptstrang der Handlung machte. Als der Ich-Erzähler, ein ehemaliger Sportreporter, mit seinem Sohn im Auto nach einem vorausgegangenen Abstecher zur Basketball Hall of Fame in Springfield in Cooperstown eintrifft, biegt er mit dem Wagen in die Main Street und findet eine Szenerie vor, die noch heute fast exakt so aussieht: „An der Ecke sehe ich unerwartet am Ende der nach rechts abgehenden Straße die Ruhmeshalle des Baseball, ein blassrotes Gebäude im klassizistischen Stil, das nach Postamt aussieht, und ich mache eine schnelle, gefährliche Rechtskurve von der Chestnut Street herunter auf die Straße, die sich als Main Street herausstellt. Die Main Street ist voller Baseball-Touristen und hat die seelenlos gleichmütige, geschäftige Atmosphäre eines Collegestädtchens, wenn die Studenten zum Herbstsemester zurückkommen. Die Läden an beiden Straßenseiten verkaufen alles, was mit Baseball zu tun hat: Trikots, Karten, Poster, Autoaufkleber, zweifellos auch Radkappen und Kondome; und diese Läden teilen sich die Straße mit gewöhnlichen Kleinstadtgeschäften – einer Drogerie, einem Herrenbekleidungsgeschäft, zwei Blumenläden, einer Gaststätte, einer deutschen Bäckerei und verschiedenen Immobilienmaklern.“46
Das ist der Ort mit seinen 2000 Einwohnern, der die Kulisse für die Inszenierung liefert. Deren Höhepunkt besteht jeden Sommer aus dem sogenannten Induction Weekend. Dann strömen tausende Besucher durch Main Street. Und die alte Bäckerei, an der übrigens nichts Deutsch ist außer dem Namen Schneider, arbeitet auf Hochtouren, wie Jennifer Zachow, die Managerin, sagt: „Das ist ihre zweite Anlaufstelle. Zuerst gehen sie zur Hall of Fame, dann kommen sie hierher. Oft wird die Hauptstraße für den Verkehr gesperrt. Spieler sitzen auf dem Bürgersteig und geben Autogramme. Die Leute kommen von überall.“
Der Weg eines Sportlers vom Sieger zu einem ruhmreichen Star und schließlich in den Rang einer unsterblichen Legende ist ein mysteriöser Prozess. Nicht jeder Held aus der Arena taugt dazu, die Vorzeigefigur einer Gesellschaft oder einer ganzen Ära zu werden. Es liegt am Charisma der Sportart und nicht zuletzt am Charisma eines Menschen, ob die Metamorphose gelingt. Es liegt an jenem Millionenpublikum, das sich mit seinen Athleten und ihren Leistungen identifiziert. Und es liegt an den Medien.
Man nehme den Kapitän und Spielmacher der deutschen Fußballnationalmannschaft von 1954: Fritz Walter. In der Pfalz hat man nach ihm immerhin vor ein paar Jahren ein Stadion benannt. Aber ein einziger kitschiger Kinofilm genügte 50 Jahre nach dem WM-Finale, um „Das Wunder von Bern“ umzudeuten: zu einem Triumph des zweifachen Torschützen und Stürmers Helmut Rahn und zu einer Eloge auf die Fußballwelt des Ruhrgebiets. Es war eine Umfälschung. Fünf Weltmeister – fünf der elf, die im Endspiel auf dem Rasen standen – kamen so wie Fritz Walter aus einem einzigen Club, dem 1. FC Kaiserslautern. Aus dem Ruhrgebiet kam nur einer.
Bei der WM 2006 kurbelte derselbe Regisseur weiter am deutschen Fußball-Mythos. Diesmal in der Verklärung eines Turniers im eigenen Land zum sogenannten Sommermärchen. Sönke Wortmann betonte rund um das Projekt, dass er Pathos „wunderbar“ finde. Und Kitsch „nicht so schlimm“.
Manipulationen im Umgang mit der historischen Wahrheit sind auch in Amerika an der Tagesordnung. Schon die Entscheidung für den Bau der Hall of Fame in Cooperstown basierte auf einer Fama. Auf der Behauptung, dass exakt hier in diesem kleinen Ort im Jahr 1839 das Baseball-Spiel erfunden wurde. Von einem Mann namens Abner Doubleday, der später als General im Sezessionskrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten kämpfte. So wurde die feierliche Eröffnung der Baseball-Ruhmeshalle bewusst in den Sommer 1939 gelegt. Ein solches Jubiläum wollte gefeiert werden.
Die Mär vom General und seiner Erfindung ist längst widerlegt worden. Aber in den dreißiger-Jahren wurde es von niemanden hinterfragt. Schon gar nicht von jener wohlhabenden Industriellenfamilie namens Clark, die Cooperstown wie eine Aristokratendynastie beherrscht. Die Erben des Singer-Nähmaschinen-Imperiums, die in der Gegend am Lake Otsego, dem Schauplatz der Lederstrumpf-Geschichten von James Fenimore Cooper, ein großes Hotel und sehr viel Land besitzen, hatten sich in die Idee verliebt, mitten in der großen Wirtschaftskrise der dreißiger-Jahre den Tourismus anzukurbeln. Sie schlugen den Bau einer Hall of Fame vor und finanzierten das Projekt. Die Liga gab ihren Segen.
Und so standen sie im Sommer 1939 auf den Stufen vor dem neuen Gebäude: Ty Cobb, Babe Ruth, Honus Wagner und andere Ex-Profis, die in der ersten Blütezeit des Spiels, als das Radio begann, die Begegnungen live zu übertragen, zu überlebensgroßen Figuren geworden waren.
Der Ansager kündigte Wagner als Flying Dutchman und als „the greatest shortstop in the game‘s history“ an. Und der nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal in Szene zu setzen: „Ladies and Gentlemen. I was born in 1874. This organization was started in 1876. When I was a kid I said, I hope some day I will play up there in this league. And by chance I did.“
Die Sache mit General Doubleday ist nicht die einzige Ungereimtheit in der Geschichte der Institution. So wurde bis heute einer der besten Baseball-Profis aller Zeiten, Pete Rose von den Cincinnati Reds, nicht in die Ruhmeshalle aufgenommen. Er hatte in den achtziger-Jahren auf den Ausgang von Baseballspielen gewettet, war erwischt worden, hatte gelogen und war deswegen von niemand anderem als jenem Bartlett Giamatti, dem damaligen Commissioner, einem Agnostiker und Moralisten, auf Lebzeiten gesperrt worden. Die Tür zur Hall of Fame ging damit ebenfalls zu.
Was mehr als bizarr wirkt. Unter den über 300 Figuren in der Ruhmeshalle befinden sich jede Menge fragwürdige Charaktere: ein verurteilter Drogenhändler, ein ehemaliger Kokainsüchtiger, der knapp einer lebenslänglichen Baseball-Sperre entgehen konnte, zahllose Alkoholiker, ein Pitcher, der in einem Buch gebeichtet hat, dass er sich seinen Platz in der Hall of Fame auf betrügerische Weise erschlichen hat. Dazu: wenigstens drei ehemalige Ku-Klux-Klan-Mitglieder. Darunter der berühmt-berüchtigte Ty Cobb, der nie den Verdacht ausräumen konnte, dass er einen Mord begangen hatte.
Der Journalist Zev Chafets hat in seinem Buch Cooperstown Confidential auf die doppelte Moral hingewiesen, die im Verwaltungsrat der Hall of Fame herrscht, wo die Kriterien für die Aufnahme von Sportlern festgelegt werden. Es gibt eine besondere Moralklausel, die auf die Singer-Erben zurückgeht. Aber sie wird nicht auf jeden angewendet. Zurzeit etwa gelten Spieler, die sich mit Anabolika gedopt haben, als persona non grata. Doch da es sich dabei um die besten Profis einer ganzen Generation handelt, steht die Hall of Fame vor einem Dilemma. Chafets im Interview: „Die Hall of Fame versucht sicher ehrlich das zu machen, was sie für richtig hält. Aber da Baseball und die Hall of Fame sich so gerne als Musterbeispiel für Menschen mit untadeligem Charakter präsentieren, kann man sie leichter der Heuchelei bezichtigen als etwa das Boxen. Dort gibt man nicht vor, irgendetwas anderes zu tun, als solche Typen vorzuführen, denen man nachts nicht in einer dunklen Gasse begegnen möchte.“
Dass die Kritik an solch einer Heuchelei selten laut wird, liegt nicht zuletzt an der unwiderstehlichen Magie von Biographien wie der des Einwandererkindes Joe DiMaggio, der in den dreißiger-Jahren aus San Francisco zu den New York Yankees kam, dem berühmtesten amerikanischen Sportclub. Dort wurde er zu einem der besten zehn Profis in der Geschichte des Spiels. Seine märchenhafte Aufsteiger- und Erfolgsgeschichte machte ihn zu einem Idol. Als DiMaggio Anfang der fünfziger-Jahre seinen Abschied vom