Maslow ging davon aus, dass eine Stufe nur erreicht werden kann, wenn sämtliche Bedürfnisse der jeweils darunter liegenden Stufe befriedigt sind. Dies ist bis zu einem gewissen Grad einleuchtend. Stellen wir uns einen armen Slumbewohner in Kalkutta vor, der jeden Tag darum kämpfen muss, überhaupt etwas zu essen zu haben. Er wird allein damit beschäftigt sein, seine Grundbedürfnisse irgendwie zu decken, um zu überleben. Der Gedanke, sich selbstverwirklichen zu wollen, ist so weit von ihm entfernt, dass er ihn wohl überhaupt nicht kennt. Traurig, dass Menschen auf unserem reichen Planeten noch heute auf dieser Stufe feststecken müssen.
Bedürfnispyramide nach Maslow
Natürlich kann man Maslows Stufen der Bedürfnispyramide kritisieren. Sind es tatsächlich nur fünf oder mehr Stufen? Welches Bedürfnis gehört wo hin? Wir brauchen uns damit nicht im Einzelnen zu beschäftigen.52 Es reicht die Kernaussage, dass unsere Bedürfnisse hierarchisch aufeinander aufbauen und wir bemüht sind, diese Stufen so weit wie möglich nach oben zu erklimmen. Da mag es auch Unterschiede zwischen einzelnen Menschen geben. Der einen ist der Schutz besonders wichtig, dem anderen die Freiheit. Wir kommen darauf zurück, wenn wir uns mit den Grundformen der sozialen Ängste beschäftigen. Grundsätzlich wollen wir alle nach oben. „Ein Mann will nach oben“ war eine erfolgreiche Fernsehserie mit Mathieu Carrière und Ursela Monn aus dem Jahr 1978, die dies anschaulich werden lässt.53
Solange wir der Auffassung sind, dass es bergauf geht, geht es uns gut. Wir sind zuversichtlich, wir sind aktiv, motiviert, wir setzen uns ein, arbeiten, schaffen und werken aus freien Stücken. Intrinsische Motivation, also Motivation von innen heraus, nennt das die Fachwelt. Dabei geht es gar nicht darum, auf welcher Stufe wir als Ausgangspunkt stehen, solange es bergan geht. Deutschland und Österreich in den 50er und 60er-Jahren war so eine Gesellschaft des Aufstiegs. Nach den Schrecken des Krieges und dem völligen ökonomischen und materiellen Zusammenbruch durch Krieg, Tod, Bombardierung und Vertreibung, wollten die Menschen wieder nach oben. Überlebende räumten den Schutt weg, Arbeiter bauten ihre Fabriken wieder auf, Politiker schufen zwei neue deutsche Staaten und jeder fasste an und strebte aufwärts. So entstand in Westdeutschland das „Deutsche Wirtschaftswunder“ und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard schrieb sein berühmtes Buch „Wohlstand für Alle“, seine Idee einer Sozialen Marktwirtschaft.54 Ich erinnere mich noch, welcher Jubel es war, als in der Familie der erste Farbfernseher gekauft wurde, die Kohleöfen durch eine Heizung ersetzt wurden, eines Tages ein Telefon im Haus war und wir zum ersten Mal mit einem Flugzeug nach Italien in den Urlaub flogen. Alles ging aufwärts, nach vorne. Angst gab es eigentlich nur vor den Russen und ihren Atomraketen, aber die hatten ja auch Angst vor uns. In Anlehnung an einen Adeligen zur Zeit der Französischen Revolution konnte man sagen: „Wer die Welt vor 89 nicht gekannt hat, weiß nicht, was Leben ist.“ Dann kam Gorbatschow und die Grenzen öffneten sich. Nun kam der Aufschwung auch in Mitteldeutschland. Endlich wieder vereint. Und auch dort nun das Gefühl: Es geht aufwärts. Alles war gut. Insgesamt war es eine angstfreie und zukunftsmutige Zeit. So sollte es jetzt gemeinsam weitergehen. Prima.
Hat man alles, entsteht natürlich auch die Möglichkeit, dass man das Errungene wieder verliert. Bleibt unser Wohlstand? Gibt es vielleicht Gefahren? Kann es immer weiter aufwärts gehen? Der Planet ist doch endlich, wie der Club of Rome schon 1972 festgestellt hatte.55 Ist das Wirtschaftswachstum irgendwann endlich? Zweifel kamen auf. Das kann doch nicht immer so weitergehen. Und die Umweltauswirkungen sahen wir auch. „Rettet den Wald“ von Horst Stern56, „Rettet das Meer“57, „Rettet …“ wurden bekannte Buchtitel. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts kippte der Optimismus zunehmend in sein Gegenteil. Angst kam auf, Angst, auf der Bedürfnispyramide wieder hinabzusteigen. Und Angst lähmt, sagt der Volksmund zu Recht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte 1992 noch vom Ende der Geschichte geschrieben, womit er meinte, nach der Auflösung des OstWest-Konfliktes käme nun eine Zeit des Friedens und des Wohlstandes.58 Kaum jemand merkte es, aber langsam und stetig änderte sich alles, die Geschichte ging doch weiter.
Wenn nun im Denken die Auffassung, dass es bergauf geht, immer schwächer wird und auch ein Bewahren des Errungenen nicht mehr sicher erscheint, wird es kritisch. Wir können etwas verlieren, was wir schon erworben hatten, wir können auf den Stufen unserer Bedürfnisbefriedigung wieder herunterfallen. Allein der Gedanke daran macht uns Angst. Und genau diese Gedanken beschäftigen viele Menschen in den letzten Jahren. Der erste große Schock kam mit der Agenda 2010, einem Konzept zur Neuorganisation des Arbeits- und Sozialsystems in Deutschland durch Bundeskanzler Gerhard Schröder und die SPD in den Jahren 2003–2005, auf das Beschäftigte und Arbeitslose mit höchsten Verlustängsten reagierten und das die SPD ihre Stellung als Volkspartei kostete, mit Stimmenverlusten, von denen sie sich bis heute nicht erholen konnte.59 Weiter ging es mit den Problemen in der Wirtschaft, am Arbeitsmarkt und in der Finanzwelt. Immer mehr Menschen empfanden, dass die besten Zeiten vorbei waren und es eher wohl weiter abwärts gehen würde. Entsprechend stieg die Angst vor eigenem Abstieg.
Haben wir eben vorerst die Angst definiert als subjektives Empfinden möglichen Verlustes, so können wir dies nun präzisieren: Angst ist das subjektive Gefühl der Möglichkeit eines Verlustes von erreichten Positionen auf der Skala der Bedürfnisbefriedigung. Schauen wir uns einmal an, was das in der Coronazeit bedeutet:
1. Grundbedürfnisse
Den Regierungen kann nur daran liegen, die Grundbedürfnisse zu gewährleisten. Essen, Trinken, Wohnen, Wärme etc. stehen den Bürgern in vollem Umfang zur Verfügung und werden auch Bedürftigen durch Sozialleistungen gewährleistet. Und da tuen sie auch gut dran. Denn die Geschichte zeigt, dass die Nichtgewährleistung von Grundbedürfnissen die Menschen in die Rebellion treibt. Sind die Grundbedürfnisse nicht mehr voll gedeckt, haben die Menschen nichts weiter zu verlieren. Also kann und muss man den Aufstand wagen.60 So gingen der Französischen Revolution von 1789 und der Revolution 1848 Hungerkrisen voraus, ausgelöst damals durch Ernteeinbußen aufgrund vulkanischer Eruptionen mit Fallout größerem Umfangs und Minimierung der solaren Einstrahlung.61
Angst, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse einmal nicht mehr so sicher sein könnte, besteht trotzdem. Vor dem ersten Lockdown, und abgeschwächt auch beim zweiten, kam es zu einem panikartigen Kauf von lange haltbaren Überlebensmitteln wie Nudeln, Reis, Mehl, Hefe und Konserven. Die Regale in manchen Supermärkten waren über viele Tage völlig leer. Ebenso geschah es skurriler Weise mit Toilettenpapier, das lange nicht erhältlich war und danach dann erst nur zu exorbitanten Preisen. Es ging der Witz um: „Die Italiener decken sich mit Rotwein ein, die Franzosen mit Kondomen und die Deutschen mit Toilettenpapier.“ Jeder halt mit dem, was man in der Not braucht. Die Lage hatte sich bald wieder entspannt, gab jedoch einen Vorgeschmack, was bei einem Zusammenbruch der Wirtschaft oder längeren Lockdowns geschehen kann, und dass eine Angst vor einer Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse latent vorhanden ist.
Gleichwohl sind derzeit unsere Grundbedürfnisse, rein sachlich betrachtet, völlig gedeckt. Doch nein! Was ist denn mit der Gesundheit und dem Leben? Maslow führt beide in seiner Bedürfnispyramide nicht auf, als wenn es da kein Bedürfnis gäbe. Man kann sich tatsächlich streiten, ob Leben und Gesundheit eine Stufe in der Bedürfnispyramide darstellen oder ob sie der Sinn sind, wofür es die Bedürfnisse überhaupt gibt. Aber das ist eine rein philosophische Betrachtung ohne wirkliche Notwendigkeit. Fakt ist jedoch, dass Leben und Gesundheit unsere allertiefsten Sehnsüchte darstellen. Die Angst vor dem Tod ist die größte und