Birgit gab ihm die Kamera zurück und drehte mit Entschiedenheit ab. War sie verärgert? Hatte sie ihn durchschaut? War das die Strafe, dass er sich jetzt selbst im Kasten hatte? Dietrich unplugged, das pure Menschenkind. Das verdross ihn. Weniger das Profilbild, auch wenn es etwas teigig wirkte. Was ihn mehr erschreckte, war die Totale, seine Jämmerlichkeit zwischen Waldemar und Joachim. Der Bruder zur Rechten war um einen halben Kopf größer, trainierte Männlichkeit in der Krachledernen, braungebrannt vom letzten Segeltörn. Waldemar zur Linken war zwar mit seinen siebzig Jahren erkennbar ein alter Mann, etwas gebückt und o-beinig, aber Kraft ging immer noch aus von diesem weißhaarigen Schwergewicht. Zwischen diesen Ikonen des Patriarchats wirkte der untersetzte Dietrich mit seinem schütteren Haupthaar filigran, fast feminin, irgendwie zappelig, und das Bierbäuchlein war ihm drangeklebt wie eine schlechte Pointe auf einen falschen Witz. Sah so ein Dietrich aus? Benannt nach Dietrich von Bern, dem großen mythischen Helden aus dem Nibelungenlied, historisch rückführbar auf einen tatsächlich Großen, den Ostgotenkönig Theoderich, nicht nur Eroberer, Verwalter und Gestalter der weströmischen Konkursmasse, sondern auch vernunftverheiratet mit Audofleda, Tochter des Merowingers Childerich I. und der Basena von Thüringen. Ein männlicher Spross war diesen Eheleuten nicht geschenkt, nur eine Tochter – aber was für eine! Gregor von Tours erzählt, dass Amalasuntha mit einem Sklaven durchgebrannt ist und ihre Mutter mit einem vergifteten Abendmahlskelch ermordet hat.
Na bravo! Eine feine Familie ist das, der Dietrich seinen Vornamen verdankt. Aber immerhin, eine Familie. Dietrich hatte noch immer keine gegründet. Mutti sah es mit Sorge und Argwohn, das wusste er. Nie hatte er ihr eine Freundin vorgestellt, nicht einmal ein lustiges Urlaubsfoto von der Ostsee geschickt, das ihn verliebt gezeigt hätte in irgendeine Karin aus Kiel oder eine Wiebke aus Flensburg. Dietrich hatte einmal gelauscht, als sich Mutti im Nebenzimmer mit gesenkter Stimme an Joachim gewandt hatte: Müssen wir uns um Dietrich Sorgen machen? – Sorgen? Um Dietrich? Warum denn? – Ich meine, er wird doch wohl ein normales, gesundes Mannsbild sein. – Ach, das meinst du. – Rede du doch einmal mit ihm. Vati ist tot, du bist der ältere Bruder.
Joachim hatte nie mit ihm geredet, obwohl er längst in die Rednerrolle hineingewachsen war. Gleich wird er das Wort zur Sommersonnenwende ergreifen, das Tradition war im Hause Pernauer. Ihr Gründer war Onkel Heinz. Er hatte das großfamiliäre Sonnwendfest angeregt, damals, in den Sechzigern, als die Tracht noch obligatorischer Dresscode war und Heinz Albert klare Worte gesprochen hatte, deutsch, fest und ohne Bemäntelung.
„So hat er immer gesagt, der Heinz Albert“, erinnerte sich Mutti, „deutsch, fest und ohne Bemäntelung. Schön hat er gesprochen, von der Familie als Keimzelle, von Sippe und Blut, das noch dicker ist als Gerstensaft. O ja, der konnte schon humorvoll sein, der Onkel Heinz, aber auch ernst und würdig, wenn er von den heiligen Bräuchen der Ahnen sprach, denen die Natur göttlich war.“
„Ja, die Natur“, stichelte Reinhard, „nicht so ein beschnittener Judenbengel aus Nazareth, der sich für Gottes Liebling hielt und sozialromantischen Schwachsinn verzapfte, anstatt mit seinem Volk gegen die römischen Besatzer zu kämpfen. So sagte er das immer, unser lustiger Onkel Heinz.“
„Ach was, das hat er doch nicht böse gemeint. Das war mehr ein Witz“, versuchte Hildegard zu beschwichtigen, aber Reinhard ließ nicht locker, erhob sich und ahmte Heinz Albert nach: „Ihr wisst, ich bin alles andere als ein Judenfreund, aber dass sie diesen Volksverblöder und Jugendverführer am Kreuz sehen wollten, das verstehe ich!“
„Das hat er gesagt?“ (Rebekka, verstört)
„Na ja, manchmal war er vielleicht ein bisschen extrem, der Heinz Albert.“ (Hildegard, nachsichtig)
„Ein unverbesserlicher Nazi war er, braun bis in die Unterhose und nicht nur manchmal.“ (Reinhard, giftig)
„Halte dich bitte zurück, Reinhard, du hast getrunken.“ (Joachim, streng)
Als Vater Pernauer in den frühen Neunzigern von Onkel Heinz die Rednerrolle übernommen hatte, entschärfte er die schneidige Sonnwend-Rhetorik. Den Judenbengel und Volksverblöder erwähnte er nicht mehr, auch nicht das Germanenblut, dicker als Gerstensaft. Otto Pernauer konzentrierte sich auf die Bräuche der Ahnen, Schicksal und Natur, das einige Volk und seine Keimzelle, die Familie. Die soll uns heilig sein – zumindest in der rhetorischen Darbietung, denn im praktischen Leben erlaubte sich Vati die eine oder andere Abweichung. Auf seiner letzten Reise, hinauf in den skandinavischen Norden zum Julfest, hatte ihn, wie die Familie im Nachhinein erfuhr, eine gewisse Frau Emmeran begleitet. Ihre fürsorgliche Zuwendung hatte aber den damals Achtundfünfzigjährigen auch nicht retten können vor dem plötzlichen Herztod am Fjord, vielleicht sogar im Gegenteil.
Jetzt also Joachim. In den frühen Jahren seiner Rednerschaft hatte der erfolgreiche junge Jurist die Verschlankung und ideologische Entschärfung, die sein Vater eingeleitet hatte, diskret, aber konsequent fortgesetzt, hatte nicht nur auf Blut und Boden, sondern auch auf Sippe und Vorsehung verzichtet. Geblieben waren die Treue zu Familie und Volk und die Ehrfurcht vor Tradition und Natur. Gemäßigtes Klima sozusagen, das allerdings nicht von Dauer war. Denn das Jahr 2015 stieß europaweit so manches an, im engeren Kreis der Familie Pernauer die Re-Ideologisierung der Sommersonnenwende. Festredner Joachim erinnerte an die Türkenbelagerung von Wien anno 1683 und warnte vor drohender Umvolkung, der man hart entgegentreten werde: Wir schaffen das! Joachims forciertes Parteiengagement schärfte auch seine private Rhetorik.
„Onkel Heinz und Vati wären stolz, wenn sie dich hören könnten“, sagte Hildegard.
„Ja, das wären sie, und so schließt sich der braune Kreis“, ätzte Reinhard, „von Heinz Albert über Otto zu Joachim und wieder zurück. Dieselbe Sprache. Dieselbe Haltung. Und wir alle spielen unglücklich mit. Mitgegangen. Mitgefangen. Diese Familie …“
Dietrich triumphierte. Gleich würde er fallen, der bekannte Satz, der das wackelige Kunstgebilde zum Einsturz bringen wird: Eine Nazifamilie! Diese Familie ist eine Nazifamilie!
Dietrich hatte diesmal zu früh triumphiert. Reinhards spitzer Satz blieb abrupt hängen, denn Muttis heftiger Aufschrei kam ihm zuvor: „Hört auf!“, schluchzte sie. „Wo es doch unser letztes Sonnwendfest ist.“
Das letzte Sonnwendfest? Was soll das heißen? Niemandem in der Runde glückte eine passende Reaktion.
„Joachim soll es euch erklären“, sagte Hildegard und alle starrten das informelle Familienoberhaupt an.
„Na gut“, sagte Joachim, „ich wollte zwar heute nicht darüber reden, aber da unsere Mutter ihre Gefühle leider nicht unter Kontrolle hat, muss es wohl sein. Ich habe Mutti empfohlen, das Wutscherhäusl zu veräußern.“
Veräußern? Verkaufen? Das Wutscherhäusl? Im Familienbesitz seit 1938. Dieses romantische Juwel. Ja, warum das denn? Man bedrängte Joachim. Er war ihnen eine Erklärung schuldig.
„Weil es nur zwei Möglichkeiten gibt: Verkauf zu einem guten Preis oder eine sauteure Generalsanierung.“
2 Die Gralsburg der Pernauers
Dem Wutscherhäusl fehlt die Eindeutigkeit, dachte Joachim. Hätte man es mit einem Erbhof zu tun, erbaut von einem tüchtigen Stammvater und seinen Söhnen, seit Generationen im Familienbesitz, dann wäre das Wutscherhäusl vielleicht geworden, wozu es Onkel Heinz in seiner ersten Sonnwendrede im Jahr zweiundsechzig bestimmt hatte: die Gralsburg der Pernauers. Möge das Wutscherhäusl das Stein gewordene Herz der Familie sein! Die von Heinz Albert strapazierte Metapher war unglücklich, Opa hielt sie sogar für zwielichtig. „Was redest du denn da Zwielichtiges daher, Heinz, ein Pernauer-Herz wird doch nicht zu Stein!“, soll er gesagt haben. So ähnlich überliefert Mutti die Anekdote.
Joachim hatte die Dokumente mehrmals geprüft. Die Bau- und Eigentümergeschichte des Wutscherhäusls war rechtlich nicht angreifbar, Heinz Alberts Gralserzählung entsprach sie aber nicht. Die existenziell bedrohte Bauernfamilie