Das Dorf am Grunde des Sees. Gabriele Behrend. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Behrend
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783957658197
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fremdartige Marketenderin war überaus beschäftigt. Eine ganze Traube weiblicher Besucherinnen hatte sich um die Stofftruhe zusammengerottet und hielt die verschiedensten Textilien in die Luft. Eine Dame hatte sich in lange Handschuhe aus weinrotem Ziegenleder verliebt. Eine andere wiederum drapierte ein Mieder aus einem grell glänzenden Etwas vor ihrer Mitte und raufte sich mit dem oberen Armpaar die Haare.

      »Da pass ich doch nie rein!«, kreischte es durch die Flüstermännchen hindurch, die Gio endlich in Betrieb genommen hatte. »Diese Wampe lässt nicht zu, dass ich mir etwas Schönes leisten kann! Und dabei sind Kunststoffe in unserer Zeit etwas super Exquisites!«

      »Nun beruhige dich doch, Uznella. Dann nimm lieber das Cape hier. Ist auch viel mehr Fläche als das Mieder. Was meinst du, was du damit für Eindruck schinden wirst.« Die Freundin der Vierarmigen tätschelte deren rechten unteren Oberarm.

      Giovanni schmunzelte. Dann stöberte er durch die hinteren Kisten, da, wo es metallisch glänzte und nach Schmieröl roch. Alles eindeutig Danachs. Er nahm ein Etwas in die Hand. Es war ein konischer Gegenstand, mit einer schwarzen Kappe aus mattem Material am rückwärtigen Ende. Er besah sich den Stab, drehte probeweise an dem Griff und warf das Teil erschrocken in die Kiste zurück, als es mit einem leisen Brummen ansprang und heftig in seiner Hand vibrierte.

      Ein Glucksen perlte in die diesige grüne Luft hinein. Die fliegende Händlerin hatte das magentafarbene Plastikcape an die Besucherin verkauft und kurz darauf ihren Lieblingskunden entdeckt.

      »Was ist das?«, fragte Gio seine Lieblingsmarketenderin und zeigte auf den stetig brummenden Stab, der sich langsam über die anderen Artefakte bewegte.

      Die fliegende Händlerin trat an die Kiste, nahm den Gegenstand in die Hand, ließ das Schnurren ersterben und legte ihn zurück zu dem Geraffel. »Nichts für dich, mein Junge!«, grinste sie ihn an.

      »Das ist keine Antwort«, hielt er entgegen. »Was ist denn das nun?«

      »Etwas, das nur uns Frauen Freude bereitet.« Die fliegende Händlerin lächelte einmal kurz mokant, verfinsterte dann ihre Miene und grummelte. »Nu’ gib dich damit zufrieden. Also, was suchst du heute?«

      Gio überlegte. »Etwas …« Er erinnerte sich an das Wort, das die Besucherin an der Stofftruhe benutzt hatte. »Etwas Exquisites. – Hast du das?«

      Die fliegende Händlerin lockerte ihren Kaftan ein Stück weit, griff sich dann ins Dekolleté. »Da hast du das Exquisiteste, was ich habe. Such dir eine aus, ich schau, was ich dir für einen Preis machen kann.«

      Gio trat einen Schritt zurück. Der weiche, nachgiebige Busen bot Platz für diverse Ketten und Geschmeide. »Können die auch etwas?«

      Die fliegende Händlerin äugte sich auf die Brust. »Die linke Kette hier, da ist eine Uhr angehängt, wo man die Unruh ticken sehen kann. Und zwei weiter rechts, mit der kannst du auf den sieben Weltmeeren segeln. Das ist ein Kompass en miniature.«

      Giovanni beugte sich näher zur Auslage. »Und das hier?«

      »Einmal knicken und schon leuchtet es rot. Für ungefähr drei Stunden.«

      »Und dann?«

      »Dann ist es Müll.«

      »Oh.« Gio klang enttäuscht.

      »Aber hier.« Sie winkte ihn näher. »Hier im Zentrum. Siehst du das?«

      Gio sah sich um, doch alles, was er in der Gegend entdeckte, die sie ihm wies, war ein kleiner Schlüssel an einer dünnen silbernen Kette. »Ja?«

      »Das ist das wirklich Beste, was ich dir heute geben kann.«

      »Kann er denn etwas?«

      »Oh sicher, ja.«

      »Was denn?«

      »Das, mein Lieber, musst du selbst herausfinden.« Dann griff sie sich in den Nacken, löste die Kette von ihrem Hals und ließ sie in Gios Hand gleiten.

      »Was willst du dafür haben?«

      Die fliegende Händlerin überlegte kurz. Da nickte sie ihm zu. »Behalt ihn einfach. Bis du weißt, wozu er dient.«

      Gio stand verdattert im Zelt. Wann hatte es das jemals gegeben, dass seine Lieblingsmarketenderin Ware ohne Gegenleistung abgab?

      »Ich viel, ich danke vielmals«, verhedderte er sich mit seiner Antwort.

      Da grollte die fliegende Händlerin nur, winkte ab und verwies ihn des Zeltes.

      Derweil sich die Dorfbevölkerung mit den Besuchern auf dem Marktplatz vermischte und alle sich an den Ständen sattsahen, sich die Bäuche vollschlugen und mehr oder weniger miteinander in Kontakt traten, war einer an den Rand des Dorfes spaziert. Dort, am Saum des dunklen Tanns, unweit des wetterschiefen Turmes gab es eine Höhle. Aus eben dieser war er selbst eines Tages gefallen und mitten in diesen heimeligen Flecken geplumpst. Er hatte sich mit den Dorfbewohnern angefreundet, soweit er Freundschaften zuließ, er, Kukuschkin.

      Er hob die linke Hand mit dem spitzenumhäkelten seidenen Taschentuch an die recht große Nase. Man konnte hier schon von einem prächtigen, der Erde zugeneigten Zinken sprechen, was ihn aber nicht hässlich wirken ließ. Die Dörfler hielten Vladimir eben für einen Mann mit Profil. Und er berichtigte sie nicht. Was der Wahrheit entsprach, sollte nicht verfälscht werden.

      Er tupfte sich das mit Riechöl getränkte Tuch an die Nasenspitze. Der Duft war schon lange nicht mehr original, aber zum Glück gab es die fliegende Händlerin, die mit Produkten aus seiner Heimat aushalf. Kukuschkin seufzte. Dann tastete er nach seiner gepuderten Perücke, strich sich über den Richelieu-Bart und rückte seine Brokatweste zurecht. Abschließend besah er sich seine Absatzschuhe mit den juwelenbesetzten Schnallen. Alles blitzte und glänzte, der Gehrock saß wie angegossen.

      Kukuschkin ächzte erneut. Er durfte nicht hier sein, am Gesäß des Erdenrunds. Er sollte eine Schönheit am Hofe des Zaren umwerben. Karten spielen, jagen. Sich den schönen Künsten widmen, Musik, Theater und Oper und dabei der Weiblichkeit hold sein. Aber ach, nur weil er keinen Doppelkopf verstand und so die wichtigste Partie seines Lebens verloren hatte, bildete er auf immer hier im Dorf die Schnittstelle zwischen den Besuchern und den Dorfbewohnern. Flüstermännchen verteilen, Hausregeln erklären, Streitereien schlichten. Dolmetschen, wo die Kapseln versagten.

      »Ich bin der verkannte Diplomat dieser Einsiedelei! Ich armer Tor!«

      Angewidert von all dem stumpfen, dunklen Grün um ihn herum, warf er seine Rockschöße nach rückwärts und setzte sich auf einen trockenen Baumstamm am Wegesrand. Er lehnte sich an den Zaun hinter ihm und sah ins unermesslich strahlende Grün über ihm.

      Ach ja, welch Schönheit. Was er vor einem Moment als aufdringlich und eintönig empfunden hatte, schien ihm jetzt bewundernswert. Er seufzte wieder, diesmal aber versonnen.

      Manchmal hatte man Glück und helles Licht kringelte sich auf die Nasenspitze hernieder oder brach sich in einer Flut von Luftbläschen, die wie Wolken durch den Himmel schwebten. Hin und wieder, in stillen Momenten, zog Algenhaar vorüber, dann, wenn die Nymphen spielten. Vladimir gefiel die Vorstellung, dass das Droben aus Seewasser bestand. In den seltenen Augenblicken, da er allein war mit sich und dieser Fantasterei.

      Auf einmal blitzte es auf, mitten in seine unsortierten schwärmerischen Gedanken hinein. Grell zuckte es durch das Grün, das von jetzt auf gleich dunkler aussah als zuvor. Und dann passierte etwas, das Vladimir nicht recht zuordnen konnte.

      Ihm war, als hörte er ein feines Reißen, ein Schaben, ein Zing. Aber da erhellte sich das Himmelsgrün erneut, und ein Mensch stürzte in einem Wasserschwall aus dem Himmel, mitten hinein in die Tannenwipfel. Er fiel durch das Geäst, schlug immer wieder auf Astgabeln auf und landete endlich mit einem dumpfen Knall auf dem Boden.

      Vladimir hob eine Braue. Seit wann kamen die Besucher von oben? Die Höhle war ja hinlänglich bekannt, aber jemand, der aus allen Wolken fiel? Das war neu.

      Er erhob sich und schlenderte zu der Tanne, unter der der Neuankömmling lag.

      »Hallo?«,