Ich mache etwas, das mir schon seit Langem im Kopf herumgeistert. Ich sortiere die Unterlagen meines Vaters. Er hatte viele davon. Er war anscheinend nicht nur Jäger, sondern auch intensiver Sammler gewesen. Ich finde Tagebücher seiner Jagderlebnisse, Aufzeichnungen aus dem Internierungslager, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in Ravensburg, Unmengen an Briefen, umfangreiche Notizen, ein Buch von Karl Vogel, einem Lagerkommandant in Garmisch sowie ein Buch von Hans Hellmut Kirst, in dem er das Leben im Internierungslager beschreibt.
Die Zeitungen sind im Moment voll mit Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Man berichtet über das großartige Verhalten der alliierten Truppen und über unsere Dankbarkeit für die Befreiung aus der Nazi-Diktatur. Die Amerikaner sind gekommen, um uns Demokratie und Menschlichkeit zu bringen. Die Amerikaner haben uns beim Aufbau einer neuen Ordnung geholfen. Die Kehrseite darf aber dennoch nicht verschwiegen werden, einige Soldaten haben die Amerikaner im Internierungslager in Garmisch-Partenkirchen auch ganz anders erlebt.
Die volle öffentliche Aufmerksamkeit gilt und galt schon immer den Opfern des Nationalsozialismus. Sie stehen im Zentrum der Betrachtung. Das ist richtig, das ist wichtig, das Leid und das Unrecht dürfen nicht vergessen werden.
Auch für mich, den Autor, ist es wichtig, herauszufinden: Wie kommen die Täter zurecht mit dem, was sie getan haben? Inwieweit können die Täter ihre Taten ausblenden oder verleugnen? Wie gehen sie mit ihrer Schuld um? Gelingt es ihnen, sich mit sich selbst zu versöhnen? Die hauptverantwortlichen Täter wurden in Nürnberg verurteilt. Was aber ist mit den „Nebentätern“? Denen, die sich darauf berufen, nach geltendem Recht gehandelt zu haben? Oder wie steht es um die Soldaten, die im Befehlsnotstand handelten, obwohl sie das Unrecht erkannten? Sind diese Soldaten Kriegsverbrecher?
War mein Vater ein Täter, ein Verbrecher? Wenn ja, inwieweit fühlte er sich schuldig und bereute seine Taten? Inwieweit werde ich, als sein Sohn, mit der Schuld meines Vaters fertig? Wie wirken sich diese Schmach und die gesellschaftliche Sippenhaftung auf mein Leben aus?
Auch im Jahr 2020 gibt es noch immer viele Vorurteile in der Gesellschaft. Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Akteure und Akteurinnen, Schicksale und Hintergründe findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Alles wird undifferenziert in einen braunen Topf geworfen und mit einem Deckel verschlossen. Eine ganze Generation wird kollektiv verurteilt. Dabei wäre es doch gerade heute enorm wichtig, sich – ohne das Furchtbare leugnen zu wollen – differenziert mit Motiven und Hintergründen der Nebentäter zu befassen. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
Ich habe unter dieser kollektiven Verurteilung sehr gelitten. Sie hat mein eigenes Leben nachhaltig beeinflusst. Kann und darf es eine Vergebung für unsere Väter geben? Reicht es aus, dass der Vater seine Taten bereut? Ist ihm bewusst geworden, dass seine Taten auch auf seine Kinder und Enkel Auswirkungen haben können?
Ich sage jetzt in Gedanken zu meinem Vater: „Ich verstecke dich nicht mehr. Was auch immer du getan hast und was auch immer dein Grund dafür waren, es bleibt deine Sache. Du musst selbst dafür einstehen. Ich will frei sein von deiner Schuld.“ Diese neu gewonnene Haltung ermuntert mich, sein Leben zu beschreiben.
Heute leben wir in einem Rechtsstaat, in dem vor der Verurteilung eines Menschen immer auch nach Gründen, Motiven und Vorgeschichte gefragt wird. Rückblickend frage ich mich: Welche Rolle spielte die familiäre Prägung und der damals herrschende Zeitgeist beim Handeln meines Vaters? Wie wird ein junger Mensch damit fertig, wenn er als Soldat sein Leben riskiert, im Glauben, Volk und Vaterland zu verteidigen, und alle Ideale plötzlich nichts mehr wert sind und er sich für politisch und menschlich verwerfliche Ziele hatte missbrauchen lassen?
Wie kann ich mich selbst lieben, wenn ein Teil meines Wesens dem meines Vaters gleicht? Die Neigung zur Herrschsucht von meiner Großmutter und meinem Vaters finde ich auch in mir. Die Lust, schnell Entscheidungen zu treffen, ohne sie vorher zu kommunizieren, kann eine Stärke aber auch eine Gefahr sein. Ich wollte nie wie mein Vater werden. Zur Beruhigung versicherte meine Mutter mir, ich würde im Wesen ihrem Vater gleichen. Mein Großvater mütterlicherseits ist mir ein Vorbild. Er gibt mir Orientierung im Denken und Handeln.
Immer wieder frage ich mich, wie sich gebildete Menschen von einem psychopathischen Menschen verführen lassen konnten und ihm bedingungslos gefolgt waren? Einem Menschen, der mit einem Programm der Arbeiterklasse gestartet hatte, der den deutschen Nationalismus gepredigt und unbedingten Gehorsam gefordert hatte, sich für die „Arische Rasse“ begeisterte, obwohl er selbst nicht Deutscher war und auch in keiner Weise „arisch“ ausgesehen hatte?
Sind die Antworten vielleicht ansatzweise in den heutigen USA, Brasilien oder gar in den rechtsgerichteten politischen und gesellschaftlichen Strömungen europäischer Demokratien einschließlich Deutschland zu suchen? Müssen wir versuchen, die aktuellen Entwicklungen zu verstehen, um die Motive von Nebentätern und Mitläufern der Nazizeit rückwirkend zu begreifen? Oder eher umgekehrt?
In meinem Zuhause wurde nie über die Kriegszeit gesprochen. Auch persönliche Probleme wurden vor den Kindern nie erörtert. Das machte man nicht, man hat einfach nur funktioniert. Es herrschte Schweigen über die Vergangenheit. Aus Angst, vor Scham? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber: Das Verschweigen der Vergangenheit ist genauso eine Lüge, wie das Schönreden ebendieser.
Der Vater meiner Mutter war ab Oktober 1939 Oberstabsveterinär der Wehrmacht und in Warschau tätig gewesen. Das ist ein gehobener Dienstgrad und ich denke, dass man diesen nur erlangt, wenn man systemtreu war. Also dem Nationalsozialismus nahestand. Bereits 1935 hielt er in Pommern einen Familientag ab. Es gab dazu einen ausführlichen Pressebericht mit der Aussage: „Aus dem Wissen um das eigene Werden der Sippe wächst die Kraft der rassischen Verwurzelung und der Tradition. Daraus lässt sich erkennen, wie das Schicksal der Sippe mit dem Schicksal des Volkes verbunden ist.“ Die Wurzeln dieser Bauernfamilie gehen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Presseartikel und eine Einladung zum Familientreffen, die mit „Heil Hitler“ unterschrieben war, fand ich erst später im Nachlass. Über die Vergangenheit meines Großvaters wurde nicht gesprochen, alle Fragen an meine Mutter oder meinen Vater blieben ohne Antwort.
Warum konnte mein Vater keine Gefühle zeigen? Sein Abschied von mir und seinem Leben war geschäftsmäßig organisiert. Warum hatte er meine Schwestern nicht informiert? Warum bekam ich kein anerkennendes herzliches Wort zum Abschied zu hören? Wo hatte diese Kriegsgeneration ihre Gefühle verloren? Aus den Unterlagen geht hervor, dass mein Vater vor dem Krieg scheinbar ein ganz anderer Mensch war.
Warum erzählen meine Schwestern ihren Kindern, der Großvater sei ein Kriegsverbrecher gewesen? War er das wirklich? Wenn ja, warum wurde auch nach der Inhaftierung und Rückkehr aus Ravensburg nicht offen über die Anklage und die Aufhebung von dieser Anklage gesprochen? Ein Gerichtsverfahren wurde offensichtlich nie eröffnet. Daher gab es weder eine Verurteilung noch einen Freispruch. Nach dem damals geltenden Recht war sein Handeln legitimiert, wenn auch moralisch und ethisch inakzeptabel. Mit seiner moralischen Schuld musste er selbst fertig werden. Wie ist es aber mit uns, den Kindern? Wir bekommen einen Teil seiner Schuld aufgebürdet, weil wir kollektiv mit ihm verurteilt werden. Hat er das je begriffen? Eine Entschuldigung meines Vaters habe ich nie vernommen.
Warum schweigen die Eltern? Das Schweigen führt zu Vermutungen, die uns Kinder in der Ungewissheit zurücklässt, da könnte etwas ganz Schlimmes gewesen sein. Wir drei Kinder hatten denselben Vater gehabt, aber nicht den gleichen erlebt. Jeder hat seine speziellen Erlebnisse in der Familie anders verarbeitet. Wenn ich mit meinem Vater beim Jagen auf der Jagdhütte war, kam er manchmal aus sich heraus und erzählte mir fragmentarisch einige Erlebnisse seiner Vergangenheit. Er berichtete aus der Jugend, aus der Studentenzeit, von seinen wilden Liebesabenteuern und natürlich von den vielen Jagderlebnissen. Aber niemals sprach er über die Kriegszeit. Krieg war tabu, jede Frage danach war verboten, ohne, dass das Verbot jemals laut ausgesprochen wurde. Die Mauer des Schweigens war laut genug.
Durch die gemeinsame Zeit bei der Jagd habe ich ein tieferes Verständnis für meinen Vater entwickelt als