„À bientôt“, sagte die Schleusenwärterin und widmete sich geflissentlich ihrer Arbeit. Gerd Pocher war einerseits immer noch beeindruckt von ihrer Erscheinung, andererseits stieg in ihm der Verdacht auf, dass sie glatt gelogen hatte. Ihre Lippen hatten kaum merklich gezittert, als er ihr das Bild von der Leiche vorgehalten hatte.
Er kehrte um, lief über den Steg über die Schleusentore zurück zur Straßenseite und verfiel in einen leichten Trab, obwohl mittlerweile die Sonne vom wolkenlosen Mittagshimmel brannte. Ein leichter trockener Nordwestwind von den Bergen herab ließ die Hitze aber erträglich erscheinen. Er joggte leichtfüßig federnd den Weg hinab, der zu dem Ruderclub führte, und traf schließlich Pierre Moulin, der immer noch versuchte, mit den beiden Deutschen eine Verständigung herbeizuführen. Etwas außer Atem und völlig verschwitzt musste Pocher einige Minuten tief durchatmen. Die Lage war schnell erklärt.
Die Jugendlichen waren offensichtlich etwas verblüfft, dass nun ein Beamter die Fragen auf Deutsch stellte. „Wir haben hier gestern Abend gefeiert“, sagte Dimitrij Woganow. „Da waren noch ein paar Franzosen dabei, vielleicht fünf oder sechs. Wir haben ziemlich viel Wein getrunken. Es war halt lustig. Die Franzosen waren wohl eher keine Touristen. Also: Das waren Einheimische. Die sind spät in der Nacht abgehauen. Aber die haben uns gesagt, dass wir hier einfach pennen könnten. Auch wenn ich kein Französisch kann und Marco auch nur so ein bisschen, haben wir uns richtig gut verstanden. Na ja, zur Not ging es auf Englisch.“
„Wir haben eine Wasserleiche gefunden, etwas unterhalb am Ufer des Hérault“, sagte Pocher. „Wir gehen davon aus, dass der Mann in der vergangenen Nacht dahin befördert wurde. Ist euch irgendwas aufgefallen?“
Die beiden Jungs guckten sich fragend an, dann verneinte Marco Wolgrebe. „Wir waren, zugegeben, auch ziemlich betrunken.“
Pocher zeigte ihnen noch das Porträt der Wasserleiche auf dem Handy. „Haben Sie den Mann zufällig gesehen?“
Wolgrebe fragte zurück: „Ist der tot?“
„Mausetot.“
„Nein, ich habe den Mann nicht gesehen.“
„Ich auch nicht“, fügte Woganow hinzu.
Pocher wollte noch wissen, woher sie kamen und wohin sie wollten. Sie studierten eigenen Angaben zufolge Germanistik an der Uni Freiburg und waren schlicht auf Urlaub in Südfrankreich, möglichst billig. Sie beabsichtigten, noch nach Spanien zu fahren, per Anhalter. „Bleibt ruhig noch etwas in Agde“, sagte Pocher, „wenn euch doch noch etwas einfällt, meldet euch bei der Polizeistation. Es geht möglicherweise um einen Mord.“
Moulin händigte den jungen Männern ihre Ausweispapiere aus und fügte noch ein paar Sätze hinzu, die Pocher ins Deutsche übersetzte: „Wildes Campieren ist hier eigentlich nicht erlaubt, aber da drücken wir die Augen zu, außerdem sind wir von der Mordkommission und nicht vom Ordnungsamt.“
11.
Mittlerweile war es Zeit für eine kurze Mittagspause. Moulin und Pocher kamen bei einem Snack in einer Bar direkt gegenüber der noch abgesperrten Fundstelle am Ufer des Hérault ins klärende Gespräch. „Also, willkommen im Hérault“, sagte Moulin. „Eigentlich haben wir in Frankreich strenge Hierarchien und Aufgabenteilungen bei der Polizei, aber wir sind hier weit weg von Paris, und für die tägliche Arbeit ist es einfach effektiver, wenn wir auch persönlich einen guten Draht zueinander haben.“
Die Serviererin brachte je ein aufgebackenes Croque Monsieur an den Tisch und je einen Grand Crème.
„Auch Renée, unsere Team-Leiterin, ist ganz in Ordnung. Sie kennt die Stärken und Schwächen der Kollegen. Aber wenn man bei ihr nicht in kurzer Zeit auf einen zündenden Gedanken kommt, um einen Fall weiterzubringen, kann sie auch mal nervös werden. Und dann knirscht es im Getriebe.“
„Prima“, sagte Pocher. „Und wie sieht es im Privaten aus? Ich meine: Hat jeder nach Feierabend seine eigene Familie und so, oder trifft man sich auch noch mal außerhalb des Dienstes?“
„Das ist, glaube ich, ziemlich ausgewogen. Klar hat jeder seinen privaten Bereich, aber wir kennen uns gut genug. Manchmal weiß man ja gar nicht, wann Feierabend ist und wann Dienst. Aber wenn jemand privat zum Beispiel Sorgen hat oder irgendwelche Probleme, dann spürt sie das sofort. Am besten, man spricht mit ihr darüber. Sie kann eine große Hilfe sein. Übrigens: Sie ist in Psychologie geschult und hat einen entsprechenden Blick für so was.“
Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, aßen ihren Imbiss und schlürften den Kaffee, sprachen über das Wetter. In Südfrankreich herrschte eine trockene Hitze, aber im frischen Nordwestwind war das gut auszuhalten. „Der Wind weht schon seit vier Tagen“, sagte Moulin, „dann bleibt das Wetter die ganze Woche so, Sonne pur, aber das hat einen großen Nachteil: Der Wind weht nämlich das warme Wasser an der Meeresoberfläche aufs offene Meer hinaus. Und von unten kommt das kalte Wasser hoch. Das Mittelmeer ist dann zwar schön sauber, aber auch eiskalt.“
Dadurch würden Tausende von Touristen an den Stränden um ihr Badevergnügen gebracht. Die würden dann die Gelegenheit nutzen, um andere Sachen zu machen, zum Beispiel durch die Gassen der alten Städte hier zu streifen. „Guck dich um“, sagte Moulin, „obwohl Strandwetter ist: Agde ist voll von Touristen, Familien mit quengelnden Kindern. Wenn der Wind von Süden käme, hätte das Wasser 23 oder 24 Grad, und alle Touristen wären am Strand von Cap d’Agde, und die Väter würden ihren kleinen Kindern im flachen Wasser das Schwimmen beibringen.“
Just in dem Moment zog eine junge Familie an dem Café vorbei, die Eltern schleiften offenbar zwei quengelnde Kinder hinter sich her, die nur zu beruhigen waren, indem ihnen ein Eis in die Hand versprochen wurde. Pocher glaubte, dass es Briten waren, nachdem er einige Wortfetzen vernommen hatte, sie schienen jedenfalls Moulins Beobachtungen zu bestätigen. Auch eine Sichtweise auf die geschichtsträchtige Stadt und den Strand am Mittelmeer, dachte sich Pocher.
„Hat der Wind einen Einfluss auf die Strömungsverhältnisse hier im Hérault?“, wechselte Pocher das Thema.
„Nein, nur marginal“, meinte Moulin. „Das Mittelmeer ist noch ein paar Kilometer weit weg, das kalte Wasser kommt nicht bis hierher. Dass der Tote vom Mittelmeer aus hierhergetrieben worden wäre, ist bei den Windverhältnissen absolut ausgeschlossen.“
„Ich habe ja die Rundschleuse in Verdacht“, kam Pocher auf das berufliche Gespräch zurück. „Die Schleusenwärterin will nichts gesehen oder bemerkt haben, aber irgendetwas stimmt da nicht. Wir werden sehen“, gab er sich dem neuen Kollegen gegenüber ganz zuversichtlich.
Sie brachen auf Richtung Place René Subra. Mit Stunden Verspätung erreichte also Gerd Pocher seinen vorläufigen Arbeitsplatz, die Polizeistation in Agde. Renée Lebrun hatte einen Raum als Besprechungszimmer vorbereitet. „Ah, da seid ihr ja, Pierre, und der neue Kollege aus Deutschland. Willkommen in Languedoc-Roussillon! Die Leichenkiste steckt noch im Stau, genau wie Riquet. Deshalb ist er mit der Analyse auch noch nicht weiter. Alles, was wir haben, sind bisher die Wasserleiche und der Fundort.“
An einer Pinnwand hingen die ausgedruckten Fotos von der Wasserleiche und vom Fundort. Daneben waren entsprechende Farbnadeln in den Stadtplan eingespießt.
„Mord, Totschlag, Selbstmord oder ein dummer Unfall, wir wissen es nicht“, sagte Lebrun. „Die Fotos sind an alle Polizeistationen rausgegangen.“ Lebrun hatte blonde, leicht gewellte Haare, war schätzungsweise Mitte vierzig, sie erinnerte Pocher ebenfalls etwas an seine Frau beziehungsweise Noch-Frau. Sie trug eine weiße Bluse, die eher aussah wie ein Herrenhemd, über einem dunkelblauen Rock. Die Beine steckten in unscheinbaren braunen Schuhen. Sie war schlank, machte einen sportlichen, durchtrainierten Eindruck.
„Ach ja“, schwenkte sie plötzlich um, „wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Eigentlich sollten Sie sich heute Morgen hier einfinden, und wir waren bei der Wasserleiche. Wir sind