Herbst-Tagundnachtgleiche – Michaeli
Artemisia annua: Ein Segen wird zum Politikum
Vorwort
Palmbuschen binden, Gründonnerstagsuppe kochen, während des Frauendreisgers Kräuter sammeln, Raunächte begehen – einige alte Pflanzenbräuche haben die Jahrhunderte überlebt, andere wurden vergessen.
Als ich vor ein paar Jahren bei der Tagung der bayrischen Waldkindergärten ein Seminar mit dem Titel »Jahreskreisfeste und ihre Pflanzenbräuche« gab, stieß das Thema auf großes Interesse. In erster Linie ging es dabei um die pädagogische Umsetzung verbunden mit dem bewussten Erleben der Jahreszeiten im Waldkindergartenbetrieb. Doch recht schnell stellte ich auch ein persönliches Interesse der Teilnehmer fest – die »Geburtsstunde« dieser Buchidee.
Die gesellschaftliche Entwicklung in den Industrieländern, die starke Urbanisierung hat uns in gefährlicher Weise von der Natur entfremdet. Viele kennen Fauna & Flora, Ökosysteme & Landschaften nur noch aus Dokumentarfilmen und denken, dass alles in Ordnung sei, die »schönen, bunten, bewegten Bilder haben es doch gezeigt«. Eingekapselt im städtischen Leben wird der Blick auf das verwehrt, was unser Konsum und unsere Lebensweise mit dem Planeten und all seinen Geschöpfen, einschließlich den Menschen, macht.* Auch die individuelle Ebene leidet. Man ist abgekoppelt vom wahren Leben, den Lebenskräften Wasser, Erde, Luft, von dem was uns am Leben erhält. Stattdessen werden leblose Ziele wie Karriere, Statussymbole, Anerkennung von außen verfolgt, und damit einher geht der Verlust der Sinnhaftigkeit.
Die Natur mit all ihrer Schönheit wird meist nur noch als Kulisse, als Wohlfühl-Ambiente für diverse Freizeitaktivitäten missbraucht.
»Es soll schön grün sein.« Dass in dem Grün eine große Artenarmut herrscht, spielt dabei keine Rolle. Wir haben uns von unserem Ursprung, unserer Mutter Erde, entfremdet.
Aber was geschehen ist, kann sich auch wieder ändern, Kulissen können eingerissen werden. Die Natur zeigt uns alljährlich, wie Veränderung vonstattengeht.
Das bewusste Erleben der Jahreszeiten, das Begehen der dazugehörigen Feste und Rituale kann ein Vehikel hin zu dieser Veränderung sein.
Eine Veränderung, die sich auch auf unser Inneres auswirkt: weg vom rein Profanen hin zu einer tieferen Sinnhaftigkeit, eingebettet im Lebenszyklus unseres Planeten. Es ist auch ein Zugewinn an Lebensfreude: Freude über die ersten warmen Frühlingstage, die Vogelkonzerte, die Schmetterlinge des Sommers, das bunte Herbstlaub und die Ruhe des Winters. Wenn wir die Natur wieder wirklich sehen, ihren Wert erkennen und sie wieder lieben lernen, werden wir sie auch schützen und unser Konsumverhalten verändern. Wobei der vordergründige Verzicht in Wirklichkeit ein Zuwachs an Genuss ist. Man wird sich auf die kurze Spargel- und Erdbeersaison freuen, im Sommer über Tomaten und im Herbst über Äpfel. Man wird ihren Geschmack genießen, statt sie nur als fade Nahrung zu konsumieren.
Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch nicht nur als »Wohlfühlbuch« gelesen wird, sondern ein erster Schritt ist auf dem Weg, wieder bewusst und nachhaltig mit unserem schönen und einzigartigen Planeten und all seinen Geschöpfen umzugehen – und nicht nur, weil man die Notwendigkeit erkennt, sondern aus einem tiefen Bedürfnis heraus. Und dass man in weiteren Schritten beginnt, bewusst zu konsumieren (ökologisch, fair, saisonal), sich im Winter warm anzuziehen und vernünftig zu heizen. Und ich bitte euch, spielt nicht so viel mit dem Smartphone,* leistet Widerstand, geht in Gespräche, unterstützt Umweltorganisationen, gebt Wissen weiter.
Nun noch ein paar erklärende Worte zum Inhalt und Aufbau des Buches.
In ganz Europa, zeitweise bis in die Türkei hinein, war die keltische Kultur verbreitet. Eine Kultur, dessen Erbe uns leider nur noch als Flickenteppich aus römisch/griechischen Schriften, frühen Dokumenten christlicher Mönche Irlands und der Britischen Inseln, aus alten Kinderliedern und Bräuchen und dem Marienkult überliefert ist. Es war die letzte Kultur unserer Breiten, die noch ein enges, vertrautes Verhältnis zur Natur hatte. Sie wurde vom Christentum abgelöst, einer Wüstenreligion, die den Himmel und nicht die Erde verehrte. In der Wüste ist Mutter Erde nicht freigiebig, üppig, grün und lebensspendend wie in unseren Breiten.* Damit die neue Religion Fuß fassen konnte, setzte man unter anderem die wichtigsten Ereignisse des Kirchenjahres auf die bereits bestehenden Feiertage der alten Religion, wobei vier der Hochfeiertage, die sogenannten Kreuzvierteltage, die zuvor an den Vollmonden des jeweiligen Monats stattfanden, nun auf ein bestimmtes Datum festgelegt wurden.** Es verwundert nun kaum, dass mit der Übernahme der Feiertage auch viele Bräuche vollständig oder in leicht abgeänderter Form übernommen wurden.
Altes und Neues möchte ich in diesem Buch vereinen. Daher beschreibe und erläutere ich die Hintergründe der Jahreszeitfeste aus der Tradition der »alten keltischen« und »neuen christlichen« Religion heraus, wobei ich mich bei der Definition und dem Beginn der Jahreszeiten an den keltischen Überlieferungen orientiere und nicht an unserem heutigen Kalender oder der heutigen Definition.
Vieles, was an der jüdisch-christlichen