Ich fand eine leere Wand und hängte das Plakat auf. Nicht, dass ich es besonders schön gefunden hätte. Aber die kahle Wand mit dem Plakat gefiel mir besser als ohne.
Der rote Paco-Paco
Es war schon beinahe dunkel und ich konnte fast nichts mehr erkennen, als ich leichtfüßig durch das ehemalige Klosterdorf schritt. In den Ruinen des Klosterhofes erkannte ich dennoch den roten Paco mit der erlöschenden Glut unter dem Holzvergaser. War der Fremde etwa hier geblieben? Irgendwie hatte ich plötzlich Angst, und meine Genugtuung über den guten Handel mit Herrn Mayr war fast vergessen.
Zu Hause angekommen, wartete Golie schon auf mich. Er hatte den Abendbrottisch gedeckt und lachte, als er mich sah. Wir aßen zusammen, und ich brachte ihn anschließend ins Bett. Draußen war es bereits dunkel geworden. Ich legte in unserer Wohnküche noch einmal Holz in den Herd und schaute durch die Herdritzen verträumt in die Glut.
Ich hatte Gottlieb, wie er eigentlich hieß, als kleines Findelkind in München gefunden gehabt. Er hatte nur ein Schild um den Hals mit der Aufschrift getragen: ‚Ich heiße Gottlieb, erbarmt Euch meiner!‘ So etwas war seit der Katastrophe an der Tagesordnung. Seine Eltern waren wohl an den Spätfolgen gestorben. Da ganze Familien ausgelöscht wurden, gab es immer wieder den Fall, dass eine Hilfe innerhalb der gewohnten Umgebung nicht mehr möglich war, und so wurden Kinder von ihren sterbenden Eltern einfach ausgesetzt. Was sollten sie auch unternehmen in einer Situation, in der jegliche medizinische Versorgung völlig zusammen-gebrochen war?
Er war ein putziges Kleinkind mit hellbraunen Haaren und einem ewigen Lächeln auf den Lippen gewesen. Ich fühlte mich selbst gerade sehr verloren und hilflos. Eine spontane Zuneigung entstand. Ich beschloss, der Aufforderung auf dem Schild Folge zu leisten und mich seiner zu erbarmen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und ich habe es nie bereut, ihn mit zu meiner kleinen Wohnung genommen zu haben.
Anfangs war es für mich sehr ungewohnt, aber mit der Zeit wuchs ich schnell in meine Rolle als Mutter hinein, zumal ich mich mit meinem alten, dreirädrigen Kinderwagen nahtlos in das Stadtbild einfügte, den ich dank meiner guten Verhandlungskünste auf dem Markt hatte ergattern können.
Irgendwann beschloss ich dann, die Stadt zu verlassen und hinaus aufs Land zu ziehen. Eine gute Bekannte schwärmte mir von einem alten Roman vor und wollte mich begleiten. Bücher waren sehr, sehr rar, und nur solche, die die Brände der Katastrophe überstanden hatten, wurden auf den Märkten angeboten.
In ihrem zerfledderten Buch, der Autor war wohl ein gewisser Thomas Mann gewesen und der Titel nicht mehr entzifferbar, las sie von einem Ort mit Namen Pfeiffering südlich von München, der in den schönsten Farben geschildert wurde. Jemand hatte in der alten rororo-Taschenbuchausgabe meiner Freundin mit blauem Kugelschreiber an den Rand die Bemerkung:
Pfeiffering = Polling? und Waldshut = Weilheim?
geschrieben. Im Buch wurde des öfteren der Name ‚Doktor Faustus‘ erwähnt.
Irgendwann beschlossen wir, der Sache auf den Grund zu gehen und uns diese Gegend einmal anzusehen, wo die Orte sowohl einen realen als auch einen literarischen Namen trugen. Wir marschierten in einer schönen Sommerwoche immer an den zerstörten Gleisen der alten Eisenbahnstrecke nach Garmisch entlang und gelangten tatsächlich dorthin. Es war gefährlich, aber wir waren jung, unvernünftig und setzten uns der Strahlung aus. Am Abend schliefen wir in Kellern. Der See, den wir in Starnberg erreichten, lockte uns zwar sehr zu einem Bade, aber dieses Strahlenrisiko wollten wir dann doch nicht auf uns nehmen, und so genossen wir die Aussicht auf das Wasser mit den weißen Berggipfeln der Alpen im Hintergrund und marschierten am Ufer weiter. Meine Freundin hatte alle Stellen, die für unseren Ausflug touristisch wichtig waren, unter-strichen und missbrauchte diesen Roman über einen avantgardistischen Komponisten, mit Namen Adrian Leverkühn, als Reiseführer à la Baedecker.
Schließlich kamen wir in Weilheim an und sahen zu unserer Enttäuschung das Gleiche, was wir von überall her kannten: Ruinen, verbrannte Kultur und wenige Menschen, die, wie verscheuchte Ratten dort hausten und von einem Loch ins nächste huschten. Es war so trostlos, dass wir schnell an einem Flüsschen weiter nach Süden marschierten, dieses dann verließen und uns an einem kleinen Bach orientierten, um immer weiter in Richtung Berge zu gelangen. Bald darauf erreichten wir eine riesige Ruinenanlage, die wohl das alte Kloster gewesen sein musste. Ein herausragender, höherer Schutthaufen, den wir die ganze Zeit schon von Weitem gesehen hatten, musste wohl der alte Turm gewesen sein. Die alte Barockfassade mit dem runden Rosettenfenster, das völlig zerbrochen war und uns wie das Auge Polyphems anstarrte, war überraschenderweise noch erhalten. Zum ehemaligen Kirchenschiff hin überspannte ein Balken mit ein Zeltdach einen weiten Raum.
Spielte da jemand Orgel? Sollte diese etwa noch intakt sein? Wir standen gleichsam angewurzelt, und der kleine Golie, den ich über die weite Strecke auf meinem Rücken getragen hatte, vollführte dort einen merkwürdigen Tanz, als ob die Musik in ihm etwas ganz Besonderes entfachte. So konnte ich ihn nicht mehr lange halten und ließ ihn auf den Boden gleiten. Sofort robbte er auf dem Rücken dem schmalen, freigelegten Eingang zu, aus dem die Musik heraus schallte.
Meine Freundin und ich verstanden gar nichts mehr.
Im Inneren unter dem provisorischen Zeltdach blieb er erstarrt liegen, lauschte und war von uns nicht mehr von der Stelle zu bewegen, bis die Musik abbrach und der Organist, ein Mann um die vierzig, dem nur wenige blonde Haare um eine Halbglatze wehten, über eine Holzleiter vom Rest der Orgelempore kletterte. Hinter ihm folgte ein Junge, der – wie von ihm befreit – davon rannte.
Der einmal wohl recht stattliche Blonde sprach uns freundlich an, schließlich verirrten sich selten Fremde hierher. Seine netten Worte taten uns zusammen mit der schönen Musik zuvor gut, munterten uns wieder auf und hoben unsere Stimmung. Ja, Golie flippte ganz und gar aus, fuchtelte mit den Armen wie ein drolliger kleiner Tanzbär, sodass der Blonde mit uns in schallendes Gelächter verfiel.
Er war bester Laune. Ich hatte ihn so noch nie erlebt. Trotz seines zarten Alters zeigte er mir mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, dass es ihm hier gut ging und dass er gerne bleiben wollte.
Wir sahen uns dann im Dorf um, fanden wenige Menschen und viele zum Teil gut erhaltene und leere Wohnräume, die mir erheblich besser gefielen als meine Unterkunft in München zuvor. In mir reifte der Entschluss, hier zu bleiben, was meine Freundin nicht verstand. Ich hatte sowieso alles, was mir wirklich wertvoll war, dabei und quartierte mich im ehemaligen Klosterdorf ein. In den nächsten Tagen half mir der Organist, der mir durchaus nicht unsympathisch war, führte uns beide bei den wenigen Menschen im Dorf ein. Golies sonniges Wesen half dabei sehr. Sie alle waren sehr freundlich und empfahlen mir sogar eine besondere Ruine, die an ein großes Feld angrenzte, auf dem man gut Ackerbau betreiben könne, um das Leben zu fristen. Ich nahm den Rat an, und so waren wir hier im Gut Schweigestill bei Pfeiffering gelandet, wie es im Roman meiner Freundin genannt wurde. Das lag jetzt schon einige Zeit zurück.
Hatte ich das alles geträumt? War ich in der Stube eingeschlafen? Meine Glieder waren ganz steif, und ich legte mich nach nebenan zu Golie ins Bett unseres Schlafzimmers. Mehr als die beiden Räume bewohnten wir nicht. Meistens waren wir draußen, wenn das Wetter es einiger-maßen zuließ. Es mochte zwar gefährlich sein, aber wir beide schienen ausreichenden Resistenzschutz gegenüber der Strahlung zu besitzen, da wir jetzt schon gut vier Jahre so lebten und uns glänzender Gesundheit erfreuten.
Am nächsten Morgen erwachte ich und war ganz benommen. Ich hatte einem Traum, einer der-jenigen, die so realistisch abzulaufen pflegten, dass ich nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden