Das Eulenrätsel. Ghila Pan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ghila Pan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738004762
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gingen sie, bis die Waldgrenze endlich hinter ihnen lag und sich Metallklinken der Morgendämmerung entgegen streckten.

      „Alles Haltmachen!“, brüllte Elester Claw. Jim Hicksley stolperte fluchend zu Boden und fiel über Merlot, der sich wie ein Brett ins Gras hatte kippen lassen. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann und schlief ein paar Minuten später auf Merlot ein. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis taten sich nicht so leicht mit dem Einschlafen. Verzweifelt rannten sie zwischen den anderen hin und her, um eine Gerade zu finden. Doch die Heidelandschaft hielt nichts von Geometrie, und so begannen sich die beiden zu zanken, bis sie schließlich ebenso gerade umfielen wie Merlot.

      Auch die Tiere waren müde. Selim, die einzig normale Gans, pardon, der einzig normale Gänserich, suchte sich einen Platz nahe eines Tümpels. Mäusegroßvater Mero fand mit seiner Familie im Gras Unterschlupf, ebenso Tarantilli, die Flohspinne, und Fischa, die Meerkatze.

      Vierzehn Jugendliche sanken ebenfalls zu Boden, während ein an den Händen gefesselter Mann an eine Weide gebunden wurde und dort über seinen Qualen entschlummerte.

      So schliefen alle ein. Wirklich alle? Nein, nicht alle. Wer kann sich vorstellen, dass Eulalia Birdwitch in freier Wildnis die Nacht verbringt? Sie war es nicht gewohnt, sich ohne ihre tägliche Fernsehserie dem kleinen Tod zu überlassen. Auf einem möglichst sauberen Stein sitzend dachte sie an ihr Appartement mit Bodenheizung in Los Angeles.

      Doch sie war nicht die einzige, die wach war. Auch Bel Raven konnte keinen Schlaf finden. Das Mädchen hatte sich zwar, so gut es ging, in ihren Wollschal eingewickelt, doch Gewissensbisse lassen sich nicht einwickeln.

      Bel blickte hinüber zu der Amerikanerin und seufzte. Ob sie zu ihr gehen und sich entschuldigen sollte? Doch damals hatte sie ja nicht wissen können, dass die Zusendung ihres Liedes an Warner Bros solche Konsequenzen haben würde. Komisch! Wo sie doch sonst immer alles wusste! Wozu das ganze nur? Erscheinen würde der Film sowieso frühestens erst 2017, wenn überhaupt. Immerhin war der Korken, den sie im Winter noch in den Pazifik befördert hatte schon an den Stränden von Hawaii angekommen. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals eingeritzt hatte. Doch wie immer, wenn sie daran dachte: es mochte ihr nicht gelingen. Nun, irgendwann würde das alles zu Ende sein. Von dieser Erkenntnis beruhigt, schlief sie schlussendlich doch ein.

      Auch Eulalia überkam die ersehnte Ruhe. Selbst ohne die Befriedigung zu wissen, ob Betty Love in der Vorabendserie ‚Die schmelzenden Eisbären von Denver’ noch an Mister Lester McStubborn herangekommen war oder nicht. Sogar die Ungewissheit, ob sie selbst, Eulalia, Opfer eines Mordes geworden war und ihre jetzige Lage vielleicht eine Vorhölle sei, erschien ihr mit zunehmender Müdigkeit belanglos.

      Penny Lo erwachte als erste von allen. Sie räkelte sich und meinte alle Knochen zu spüren. Doch was sie dann sah, schmerzte fast noch mehr. Unweit von ihr, unter einem stacheligen Gestrüpp, lagen zwei ehrenwerte Gestalten aneinandergeklammert auf dem Boden als wollten sie sich gegenseitig erwürgen. Etwas weiter, den Abhang hinunter Richtung Tümpel, schnarchte ein älterer, mit Fetzen bekleideter Mann. Unter ihm lag ein bleicher jüngerer Mann, der kaum zu atmen schien. Seine Augen waren mit einer Binde bedeckt. Penny Lo schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick in die Weite schweifen. Sie befanden sich auf einer Hochebene, vor ihnen Gras und Büsche, die in Nebeln verschwanden, ein Tümpel war gerade noch zu erkennen. Dahinter mochten sich Wiesen und Wälder befinden, in der Ferne vielleicht ein Gebirgszug. Sie sog die frische Luft ein.

      Dann zog der Suckandpop ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das unförmige Etwas hing schlapp über dem tiefen Ast einer Birke. Es hieß übrigens Sucky. Penny Lo erinnerte sich an eine Schulstunde letzten Jahres, als dieses Unding besprochen worden war. Angeblich änderte es ständig seine Form und sah im wohlgenährten Zustand aus wie ein Riesenschnuller. Es ernährte sich ausschließlich von Frequenzen, eine Verstopfung hatte lautstarke Explosionen und den Gestank nach Schimpfwörtern zur Folge. Seit dieser Schulstunde wusste Penny Lo, dass Schimpfwörter stinken können.

      Suckys Schlafplatz lag etwas abseits von den anderen. Nur eine etwas festere, blondhaarige Frau Mitte dreißig hatte den Fehler begangen, sich unter die Birke zu legen. Penny Los Stimmung erhellte sich augenblicklich, als sie Suckys triefenden Speichel beobachtete. Pat schien dasselbe zu beobachten und bemerkte nur: „Na, wenn die aufwacht, hat der Suckandpop sicher ein fulminantes Frühstück!“

      „… Waschmaschine, weiß, schwarz und... neinnnnn!“, murmelte der an den Baum gebundene Schläfer. Der Suckandpop wurde etwas dicker, die Schnullerspitze streckte sich. Schleim tröpfelte auf Eulalias Bluse, sie lächelte im Schlaf und drehte sich auf den Bauch.

      Als der Gefesselte die Augen aufmachte, sah er aus, als wäre er gerade einer Waschmaschine im Schleudergang entstiegen.

      „Allle heeerkooommmen! Wir müssen einen Rat einberufen!“ Sucky bekam sein Frühstück, denn Elester Claw brüllte ziemlich laut. Aber es dauerte noch lange, bis alle versammelt waren. Vor allem die Tiere unten am Tümpel wollten nichts von irgendwelchen Zusammenkünften wissen. Die Meerkatze Fischa dachte sofort an Flucht. Versammlungen entsprachen nicht ihrem Naturell.

      Die Sonne war schon fast wieder verschwunden, als Elester allen Beteiligten einen ‚Guten Morgen’ wünschte. Sucky, fett und glücklich, lag neben Elester und rührte sich nicht mehr.

      „Wir haben“, erhob der ehemalige Mönch seine heisere Stimme, „einen gefährlichen Wald durchquert, und jetzt kann es nur noch einen Weg geben: den Weg zur Grenze!“

      „Unmöglich!“, unterbrach ihn Professor Draciterius und hörte kurz auf, sich mit Dr. Sanguinis Anatomis zu streiten. „Ich will zurück ins Buch! Ich weiß gar nicht, warum ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen habe. Habe ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen? NEIN, ich wurde ausgeschlossen, eliminiert aus den Seiten, sozusagen!!“ Der Suckandpop hätte mit diesem anschwellenden Frequenzpegel seine Freude gehabt, doch sein Hunger war bereits gestillt.

      „Ja, ganz richtig! Außerdem waren wir doch nur Randfiguren, ich verzichte darauf, zur Grenze des Nichtigen Reiches zu kommen, ich verzichte!“, fügte der zwielichtige Professor Anatomis Sanguinis hinzu, und man hätte meinen können, er und Professor Draciterius wären ein Herz und eine Seele.

      „Ja, genau, ich bin eine ganz normale Gans. Mein Name wurde nur einmal erwähnt, stellt euch das vor: einmal! Ich wurde weder beschrieben, nein, nein, noch eigentlich durfte ich ein Wort reden, nicht reden durfte ich, jawohl! Nowhere Man. Und genauso ging es Elvira, jawohl, der Stubenfliege, genau, genau, Draculetta, ja, ja, der Fledermaus, genauso, genauso, der Flohspinne Tarantilli und Geier Willy, von der Fledermaus ‚Hu’ ganz zu schweigen! Twist and Shout. Wozu der ganze Aufwand? Wozu? Wozu? Let it be! Also, ich möchte auch zurück ins Buch, jawohl, zurück. Niemand wird mich bemerken, nein, nein, ich bin nur eine ganz unscheinbare Gans, ja, ja, und halte meinen Mund! Yeah, yeah, yeah! Und wenn das nicht geht, nicht geht, jawohl, ich meine, wenn das alles zu lange dauert, dann fliege ich, jawohl, dann fliege ich! I’ll Follow the Sun!“

      „Selim hat völlig recht!“ Elester glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als auch noch vier Jugendliche aufstanden. „Wir möchten auch zurück!“

      Der ehemalige Mönch setzte sich auf den nächsten Felsbrocken. Er hätte jetzt gerne den Kopf auf seine Hände gestützt, doch um sich selber nicht aufzuspießen, unterließ er es. Stattdessen verschränkte er seine Eisenspitzen ineinander, blickte schweigend von einem zum anderen, bis es endlich ruhiger wurde.

      „Es stimmt, dass wir unvorbereitet auf diese Reise geschickt wurden. Wir wurden herausgerissen aus unserem täglichen Leben und fanden uns hier wieder. Einige von uns kamen auch nicht hierher, da sie zu schwer waren wie der Steinerne Löwe oder zu weit weg wie Kat Waterrise und Lerry Miller... Aber ihr wisst, was uns alle verbindet!“

      „Ja, es verbindet uns, dass wir im Nirgendwo herumsausen...!“, piepste Draculetta, die Fledermaus.

      „...und dass wir einmal gemeinsam in einem Buch waren, jedoch daraus – wodurch auch immer – verbannt wurden!“, ergänzte die Flohspinne Tarantilli.

      „Freunde! Dort, wo ihr zurück wollt, ist keine Heimat! Wir alle waren doch nur Randfiguren in diesem Buch, keiner