Der erste Schritt ist die Annahme, dass das, was ich mache, für mich selber OK ist. Es gibt das Klischee des etwas abgehobenen Künstlers, der sich nicht darum schert, was das Publikum von seinem Werk hält. So wichtig auch die Verbindung zum Publikum ist – eine kleine Prise dieser Abgehobenheit braucht jeder Künstler und jeder Impro-Spieler. Gäbe es sie nicht, hätte sich die Kunst nie weiterentwickelt. Hätten nicht in den 30er und 40er Jahren ein paar besessene Jazz-Musiker die alten Schemata aufgebrochen und dafür in Kauf genommen, vor kleinerem Publikum zu spielen, dann stünde Jazz immer noch auf der Stufe des Dixieland. Als Impro-Spieler weiß ich, dass ich scheitern kann. Aber ich weiß auch, dass ich ein theatrales Ziel verfolge: eine kurze Szene, ein kleines Spiel, eine Langform, eine packende Story. Und allein der Versuch ist es schon wert. Wenn es Zuschauer gibt, die sich das anschauen wollen und sogar Geld dafür bezahlen – umso besser. Wenn es einigen Zuschauern dann nicht gefällt, lohnt es sich, Gedanken darüber machen, wie man das, was man ausdrücken möchte, besser auf der Bühne kommuniziert und wie man sein Handwerk verbessert. Aber selbst erfolgreiche Filme und Bücher finden ihre scharfen Kritiker. Wenn man unsere Show nicht mag, ist das in Ordnung. Die Freude der Spieler ist nämlich ebenfalls ein legitimer Kompass.
Der zweite Schritt besteht darin, dass wir mit Kritik zu leben lernen. Kritik wird uns immer wieder begegnen, sie kann uns weiterhelfen, sie kann uns abstrus vorkommen, vielleicht erkennen wir erst Jahre später ihren Wert. Sie ist jedenfalls Teil der Abmachung „Künstler auf der Bühne“. Wer andere einlädt, ihre Zeit im Zuschauersaal zu verbringen, muss auch damit leben, kritisiert zu werden. Oder anders gesagt: Wer das Lob liebt, kann vor Kritik nicht die Ohren verschließen. Jeder muss lernen, wieviel Kritik er selbst ertragen kann. Ich kenne Kollegen, die nach der Show ihr Gästebuch nach kritischen Eintragungen abscannen, und wenn sie welche gefunden haben, entweder das gesamte Publikum verteufeln oder sich die Kritik dermaßen zu Herzen nehmen, dass sie kaum mehr ruhig schlafen können. Andere lassen Kritik völlig von sich abperlen, egal von wem sie kommt.
Ich denke, dass man sich mit der Zeit ein Immunsystem zulegen kann, das einem hilft, mit Kritik immer besser umgehen zu können. Der erste Trainings-Schritt für dieses Immunsystem besteht darin, Kritik nicht persönlich zu nehmen, selbst wenn sie auf die Person bezogen ist. Jede einzelne Kritik, egal von wem sie kommt – vom Zuschauer in der ersten Reihe, vom Impro-Lehrer, vom Techniker oder vom Pressekritiker – ist eben immer auch nur eine Stimme.
Die Angst vor dem Urteil anderer kann sich, wie wir wissen, sehr konkret äußern, und zwar selbst bei Spielern mit langjähriger Bühnenerfahrung. Zum Beispiel wenn ein Zuschauer im Publikum sitzt, vor dessen Augen wir glänzen wollen. Oder ein Vertreter eines Unternehmens, der unsere Show anschaut, da er mit dem Gedanken spielt, uns für einen hochbezahlten Auftritt zu engagieren. Oder wenn man sich bei einer Improgruppe in einem Vorspiel bewirbt. Das Scheitern wird uns wahrscheinlich in solchen Situationen nicht so leicht fallen wie in einer Show, bei der das missglückte Synchronisations-Spiel vergessen ist, sobald das Publikum wieder „Fünf-vier-drei-zwei-eins-Los!“ gerufen hat. Welche äußere Situation die Angst auslösen kann, mag bei jedem unterschiedlich sein. Wichtig ist, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen.
Und so kommen wir zu dem dritten Schritt: Auf der Bühne zählt das alles nichts mehr. So wichtig dir es auch sein mag, in die Impro-Super-Group gecastet zu werden, so wichtig dir auch das Geld oder die Anerkennung sein mögen, die dir in Aussicht gestellt werden – auf der Bühne gilt nur der Prozess des gemeinsamen Erschaffens. Jedes Gunst-Erheischen Richtung Publikum zerstört den Moment. Jede unechte Reaktion kratzt am großen Ganzen. Wenn wir den Geschmack des künstlerischen Leiters, des Geschäftsmenschen oder der einen Person im Publikum, die uns wichtig ist, nicht treffen, so heißt das ja nicht unbedingt, dass wir versagt haben, sondern dass das dann nicht der richtige Augenblick war oder wir tatsächlich nicht zusammen passen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Geld und Eitelkeit unseren Spielfluss hemmen, indem sie sich als Angst in unsere Hirne schleichen.
2.5Wabi Sabi
Im japanischen Zen gibt es das ästhetische Konzept Wabi Sabi, das sich an der Wertschätzung des Unperfekten orientiert. Natur kennt keine Perfektion. Alles ist vergänglich, alles ist im Prozess. Diese Beobachtung können wir auf die Kunst und die Gestaltung übertragen. Eine alte Kirche ist nicht trotz sondern wegen ihrer Patina schön. Asiatische Tusche-Zeichnungen wirken lebendig, weil wir den Strich in seinem Schwung und seiner Imperfektion sehen. Der Zeichner versucht erst gar nicht, den Prozess des Zeichnens zu verbergen. Durch den Strich, dessen Ansatz und Ende wir erkennen, das Auslaufen der Tinte, erleben wir gewissermaßen den Prozess des Zeichnens, der vielleicht vor Hunderten von Jahren stattgefunden hat, nach.
Da wir im Improtheater keine Möglichkeit zur Korrektur haben, müssen wir ebenso wie jede andere improvisierte Kunst mit dem Unperfekten leben. Mehr noch: Wir genießen den Prozess, das Unperfekte zu erschaffen. Und wir genießen es, anderen dabei zuzuschauen.
Was sich aus Wabi-Sabi-Perspektive in der Keramik als unbeabsichtigte hauchdünne Glasur-Riss darstellt, in der Architektur als Patina, in der Malerei als Spuren der Pinselhaare, das ist im Improtheater die kaum wahrnehmbare Geste des Suchens nach dem nächsten Satz, der kleine verstolperte Schritt, der Versprecher und so weiter. Diese Mikro-Fehler sollten wir freilich nicht forcieren (gleichsam um zu zeigen, dass wir improvisierend Fehler begehen), so wie auch der Töpfer seinem Gefäß nicht absichtlich Risse zufügt, um es „auf alt“ zu töpfern.
Das Unperfekte macht die Improvisation menschlich und lebendig. Wenn wir aber wissen, dass Improtheater von Natur aus fehlerbehaftet ist, dass es nie die absolut perfekte Show geben wird, ja nicht einmal die perfekte Szene, dass wir praktisch immer scheitern, manchmal minimal, manchmal grandios, dann brauchen wir uns vorm Scheitern nicht zu fürchten.
Lerne zu scheitern, und lerne deine Perspektive zu verändern. Weg vom Produkt, hin zum Prozess. Das Erschaffen selbst wird das sein, was uns erfreut. Improtheater ist eine flüchtige Kunst. Die Impro-Szene, die man gespielt hat, wird es nie wieder geben. Genauso wenig wie es sich lohnt, eine Szene vorauszuplanen, so wenig brauchen wir einer Szene hinterherzutrauern. Wir werden mal mehr, mal weniger im Moment gewesen sein. Je stärker wir uns auf den Prozess einlassen, umso mehr wird auch unser Publikum diesem Prozess folgen.
2.6Wovor sich Impro-Spieler fürchten
Impro-Spieler sind immer wieder mal von Angst getrieben, auch wenn sie es ungern zugeben. Sie fürchten sich davor,
•unbekanntes Territorium zu betreten,
•vom Publikum beurteilt zu werden
•in der Szene nicht weiterzuwissen,
•vor Veränderung.
Die Liste ließe sich erweitern, aber nach meiner Beobachtung sind dies die wichtigsten Punkte. Schauen wir sie uns einzeln an.
2.6.1Die Angst vor dem unbekannten Territorium
Wenn man eine Weile Improtheater gespielt hat, entwickelt man Antennen dafür, welche Themen sich für eine gute Impro-Szene eignen