Die Erziehung der Gefühle. Gustave Flaubert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustave Flaubert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188446
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Auteuil; alle Häuser waren geschlossen; hier und dort erhellte eine Gaslaterne einen Mauerwinkel, dann tauchte man wieder in die Finsternis; einmal bemerkte er, daß sie weinte.

      Waren das Gewissensbisse? ein Wunsch? was mochte es sein? Dieser Kummer, den er nicht kannte, interessierte ihn wie etwas, das ihn persönlich betraf; jetzt gab es zwischen ihnen ein neues Band, eine Art Mitschuld; und er sagte mit einer so liebevollen Stimme, wie er konnte:

      »Sie leiden?«

      »Ja, ein wenig,« erwiderte sie.

      Der Wagen rollte weiter, und Geißblatt und Jasmin fluteten über die Gartenzäune und entsandten erschlaffende Düfte in die Nacht. Die zahlreichen Falten ihres Kleides bedeckten seine Füße. Und er fühlte sich mit ihrer ganzen Person im Zusammenhang, weil das Kind zwischen ihnen ausgestreckt lag. Er beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinab, und indem er seine hübschen braunen Haare zur Seite schob, küßte er es sanft auf die Stirn.

      »Sie sind gut,« sagte Madame Arnoux.

      »Warum?«

      »Weil Sie Kinder lieben.«

      »Nicht alle!«

      Er fügte nichts hinzu, streckte aber weitgeöffnet die linke Hand nach ihrer Seite hin aus, – indem er sich einbildete, sie würde es vielleicht machen wie er, und ihre Hand würde die seine berühren. Dann schämte er sich und zog sie wieder zurück.

      Bald kamen sie auf die Straße. Der Wagen fuhr schneller, man sah mehr Gaslaternen, es war Paris. Vor dem »Gardes-Meubles« sprang Hussonnet vom Bock herunter. Frédéric wartete mit dem Aussteigen bis sie auf dem Hof waren; dann stellte er sich an der Ecke der Rue Choiseul auf die Lauer und sah Arnoux langsam auf die Boulevards zugehen. –

      Vom nächsten Tage an begann er mit aller Kraft zu arbeiten.

      Er sah sich vor einem Schwurgericht, an einem Winterabend, am Schluß der Plaidoyers, wo die Geschworenen bleich sind und die atemlose Menge die Schranken im Gerichtssaal einzudrücken droht, sah sich schon seit vier Stunden sprechen, alle seine Beweise kurz zusammenfassen, neue entdecken, und fühlte bei jeder Frage, bei jedem Wort, jeder Geste das hinter ihm schwebende Fallbeil der Guillotine sich heben; dann sah er sich auf der Tribüne in der Kammer als Redner, an dessen Lippen das Heil eines ganzen Volkes hängt, der seine Gegner durch seine zündende Rede überwältigt, mit einer schnellen Antwort, mit dröhnenden Worten oder wohltuendem Klang in der Stimme vernichtet, ironisch, pathetisch, hingerissen, erhaben; und sie würde da sein, irgendwo, mitten unter den anderen, würde die Tränen der Begeisterung unter ihrem Schleier verbergen; dann würden sie sich wiederfinden; – und die Entmutigungen, die Verleumdungen und Beleidigungen würden ihm nichts anhaben, wenn sie ihm mit ihren sanften Händen über die Stirn striche und sagte: »Ah! das war schön!«

      Diese Bilder strahlten wie Leitsterne am Horizonte seines Lebens. So angefeuert wurde sein Geist viel freier und stärker. Bis zum August schloß er sich ein und wurde dann zu seinem letzten Examen zugelassen.

      Deslauriers, den es soviel Mühe gekostet hatte, ihm Ende Dezember nochmals das zweite und Ende Februar das dritte einzupauken, überraschte sein Eifer. Nun erwachten die alten Hoffnungen wieder. In zehn Jahren würde Frédéric Deputierter sein; in fünfzehn Minister; warum nicht? Mit seinem Erbteil, das ihm bald zur Verfügung stehen würde, konnte er zuerst ein Blatt gründen, als Debut; dann würde man weiter sehen. Was ihn selbst anbetraf, so strebte er immer noch nach einer Professur an der juristischen Fakultät; und er verfocht seine These für das Doktorat in so bemerkenswerter Weise, daß es ihm Komplimente von den Professoren eintrug.

      Frédéric machte sein Examen drei Tage später. Ehe er zu den Ferien abreiste, wollte er zum Abschluß der Sonnabend-Vereinigungen ein Picknick veranstalten.

      Er war in heiterer Stimmung. Madame Arnoux war jetzt bei ihrer Mutter in Chartres. Aber bald würde er sie wiedersehen und schließlich ihr Geliebter werden.

      Deslauriers, der am selben Tage zum Diskutierklub d’Orsay zugelassen worden war, hatte mit vielem Beifall eine Rede gehalten. Obwohl er mäßig war, berauschte er sich und sagte beim Dessert zu Dussardier:

      »Du bist ehrlich! Wenn ich reich werde, setze ich dich als Verwalter ein.«

      Alle waren glücklich. Cisy wollte sein Rechtsstudium nicht beenden; Martinon seine kommissarische Anstellung in der Provinz beibehalten, wo er zum Substituten ernannt werden sollte; Pellerin arbeitete an einem großen Bilde, »der Geist der Revolution«; Hussonnet sollte dem Direktor der Déclassements den Entwurf zu einem Stück vorlesen, an dessen Erfolg er nicht zweifelte.

      »Denn die Bühnengewandtheit des Dramas gesteht man mir zu, Leidenschaften, ich habe mich genug herumgetrieben, um mich darauf zu verstehen, und was den Witz anbetrifft, so ist das mein Metier!«

      Er machte einen Sprung, fiel auf beide Hände zurück und marschierte eine Weile mit den Beinen in der Luft um den Tisch herum.

      Aber dieser Jungenstreich heiterte Sénécal nicht auf. Er sollte aus seiner Pension verjagt werden, weil er den Sohn eines Aristokraten geschlagen hatte. Da seine Not sich noch verschlimmerte, griff er die soziale Ordnung an, er schmähte die Reichen und schüttete Regimbart, der immer mehr enttäuscht, verbittert, angewidert war, sein Herz aus. Der Citoyen kam jetzt auf Budgetfragen zu sprechen und beschuldigte die Kamarilla, Millionen in Algier zu vergeuden.

      Da er nicht schlafen konnte, ohne die Wirtschaft Alexandre aufgesucht zu haben, verschwand er gegen elf Uhr. Die übrigen gingen später, und Frédéric erfuhr, als er sich von Hussonnet verabschiedete, daß Madame Arnoux am vorhergehenden Abend hatte zurückkehren sollen.

      Er ging daher zur Post, um seinen Platz für den nächsten Tag einzutauschen, und begab sich zu ihr. Der Hausmeister teilte ihm mit, daß ihre Rückkehr um acht Tage verschoben sei. Frédéric aß allein und schlenderte auf den Boulevards umher.

      Rosige Wolken in Gestalt von breiten Bändern dehnten sich über den Dächern; die Sonnenzelte vor den Läden wurden in die Höhe gezogen; Sprengwagen schütteten einen Regen auf den Staub, und eine unerwartete Frische mischte sich mit den Ausdünstungen der Cafés, durch deren offene Türen man zwischen Silbergerät und Vergoldungen Blumensträuße sah, die sich in den hohen Scheiben widerspiegelten. Die Menge schob sich langsam vorwärts, Gruppen von Männern standen plaudernd mitten auf dem Trottoir; und Frauen gingen vorüber mit einer Mattigkeit in den Augen und jenem Kamelien-Teint, den erschlaffende große Leidenschaften weiblichem Fleische verleihen. Etwas Unfaßbares lag über allem, hüllte die Häuser ein. Niemals war ihm Paris so schön erschienen. Er sah in der Zukunft nichts als eine unendliche Reihe von Jahren der Liebe.

      Vor dem Theater Porte Saint-Martin blieb er stehen, um die Zettel zu lesen, und nahm aus Langeweile ein Billet.

      Es wurde eine alte Zauberposse gegeben. Die Zuschauer waren nur spärlich, und durch die Dachfenster des Olymps fiel das Licht in kleinen, blauen Vierecken, während die Lampen an der Rampe eine einzige Linie von gelben Flammen bildeten. Die Bühne stellte einen Sklavenmarkt zu Peking dar, mit Glockenspiel, Tamtam, Sultanen, spitzen Hüten und Spaßvögeln. Dann, als der Vorhang gefallen war, irrte er einsam in den Foyers umher und bewunderte auf dem Boulevard, am Fuß der Freitreppe, einen grünen Landauer mit zwei Schimmeln davor, die ein Kutscher in Kniehosen hielt.

      Als er wieder auf seinem Platz anlangte, traten ein Herr und eine Dame in die Proszeniumsloge des ersten Ranges. Der Mann, von jenem eisigen Aussehen, das den Diplomaten kennzeichnen soll, mit der Rosette der Offiziere der Ehrenlegion, hatte ein blasses, von einem grauen Bart umrahmtes Gesicht.

      Seine Frau, die mindestens zwanzig Jahre jünger, weder groß noch klein, weder häßlich noch hübsch war, trug ihr blondes Haar auf englische Art in langen, gedrehten Locken, ein Kleid mit glatter Taille und einen großen, schwarzen Spitzenfächer. Wenn Leute dieser Kreise zu dieser Jahreszeit das Schauspiel besuchten, mußte man annehmen, daß ein Zufall oder die Unlust, ihren Abend im Tête-â-tête zu verbringen, sie dazu veranlaßte. Die Dame nagte an ihrem Fächer und der Mann gähnte. Frédéric konnte sich nicht erinnern, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte.

      Im nächsten Zwischenakt, als er einen Gang durchschritt,