Und was haben wir nun von der Schlußfolgerung zu halten, daß die gefundene Leiche nicht die der Marie Rogêt sein könne, weil erst drei Tage vergangen waren, als man diese Leiche an der Oberfläche treibend fand? Ist sie eine Ertrunkene, so war sie, ein Weib, vielleicht überhaupt nicht untergegangen oder konnte, falls sie gesunken, in vierundzwanzig Stunden oder früher wieder emporgestiegen sein. Doch niemand vermutet hier ein Ertrinken. War das Weib aber tot, ehe es in den Fluß geriet, so hätte die Leiche jederzeit danach treibend gefunden werden können.
›Aber‹, sagt ›L'Etoile‹, ›hätte die Leiche in ihrem verstümmelten Zustand bis Dienstagnacht an Land gelegen, so hätte man Spuren von den Mördern finden müssen.‹ Hier ist es zunächst schwer, herauszufinden, was der Schreiber gewollt hat. Er will einen eventuellen Einwand gegen seine Theorie widerlegen – den Einwand nämlich, daß die Leiche zunächst zwei Tage an Land gelegen und rascher Verwesung unterworfen gewesen sein könne – rascherer Verwesung als im Wasser. Er nimmt an, daß sie in diesem Falle am Mittwoch an der Oberfläche aufgetaucht sein könne, und meint, daß dies nur unter solchen Umständen geschehen sein könne. Er hat es infolgedessen eilig zu zeigen, daß sie nicht an Land gelegen hat, denn wenn das gewesen wäre, ›hätte man Spuren von Mördern finden müssen‹. Ich denke, Sie lächeln über diese Schlußfolgerung. Sie können nicht einsehen, wieso ein längeres Anlandliegen der Leiche die Spuren der Mörder vermehren sollte – auch ich kann das nicht einsehen.
›Und fernerhin ist es äußerst unwahrscheinlich‹, fährt die Zeitung fort, ›daß Kerle, die einen solchen Mord begangen, den Leichnam ins Wasser geworfen haben sollten, ohne ihn durch einen Ballast zum Sinken zu bringen, wo solche Vorsichtsmaßregel doch so leicht getroffen werden kann.‹ Beachten Sie hier die lächerliche Gedankenverwirrung. Niemand – nicht einmal ›L'Etoile‹ – bestreitet, daß an dem aufgefundenen Körper ein Mord begangen worden. Die Spuren roher Vergewaltigung sind zu auffällig. Unseres Dialektikers Absicht geht nur dahin, zu zeigen, daß dieser Körper nicht mit Marie identisch ist. Er wünscht nachzuweisen, daß Marie nicht ermordet worden – nicht etwa, daß die Leiche es nicht sei. Dennoch beweist seine Äußerung nur diesen letzteren Punkt: hier ist eine Leiche ohne beschwerendes Gewicht. Mörder würden beim Inswasserwerfen derselben nicht versäumt haben, ein Gewicht daran zu befestigen. Daher ist sie also nicht von Mördern hineingeworfen. Das ist alles, was bewiesen wird – wenn überhaupt etwas bewiesen wird.
Die Frage der Identität wird nicht einmal berührt, und das Blatt hat sich furchtbare Mühe gemacht, lediglich das zu leugnen, was es einen Moment früher zugegeben. ›Wir sind vollkommen überzeugt‹, sagt es weiter, ›daß die gefundene Leiche diejenige eines ermordeten Weibes war.‹
Dies ist aber nicht das einzige Mal, daß unser Dialektiker sich selbst widerlegt. Seine offenbare Absicht ist, wie ich schon sagte, den Zwischenraum zwischen Maries Verschwinden und der Auffindung der Leiche so viel als möglich zu verringern. Dennoch sehen wir ihn den Punkt geltend machen, daß kein Mensch das Mädchen nach Verlassen ihrer Wohnung mehr gesehen hat. ›Es ist nicht erwiesen‹, sagt er, ›daß Marie Rogêt am Sonntag, den 22. Juni, nach neun Uhr noch unter den Lebenden weilte.‹ Da seine Beweisführung offenbar nur eine einseitige ist, hätte er wenigstens diese Sache außer acht lassen sollen; denn wäre es erwiesen, daß irgend jemand, sei es nun am Montag oder am Dienstag, Marie gesehen hat, so wäre der fragliche Zeitraum sehr vermindert und durch seine eigene Schlußfolgerung die Wahrscheinlichkeit verringert worden, daß die Leiche jene der Grisette sei. Es ist nichtsdestoweniger amüsant zu sehen, daß ›L'Etoile‹ auf diesem Punkt besteht, in der festen Überzeugung, daß er ihm für seine gesamte Beweisführung dienlich sei.
Lesen wir nun nochmals den Teil der Beweisführung, der sich auf die Identifizierung der Leiche durch Beauvais bezieht. Was das Haar auf den Armen anlangt, so ist ›L'Etoile‹ augenscheinlich in diesem Punkte unaufrichtig. Herr Beauvais ist kein Idiot und konnte unmöglich bezüglich der Identifizierung der Leiche nichts weiter geltend gemacht haben, als daß sie Haare auf den Armen habe. Kein Arm ist ohne Haare. Die Verallgemeinerung der Äußerung von ›L'Etoile‹ ist einfach eine Verdrehung der Worte des Zeugen. Er muß von irgendeiner Eigenart dieses Haares gesprochen haben; es muß eine Besonderheit in der Farbe, der Menge, der Länge oder der Anordnung gewesen sein.
›Ihr Fuß‹, sagt das Blatt, ›war klein – so sind tausend Füße. Ihre Strumpfbänder sind überhaupt kein Beweis, ebensowenig ihre Schuhe, denn Schuhe und Strumpfbänder werden bündelweise verkauft. Dasselbe ist von den Blumen auf ihrem Hut zu sagen. Eine Sache, auf die Herr Beauvais sich besonders stützt, ist die, daß die Schließe des Strumpfbands zurückgesetzt war, um es enger zu machen. Das besagt gar nichts; denn die meisten Frauen pflegen nicht die Strumpfbänder im Kaufladen anzuprobieren, sondern kaufen sich ein Paar und ändern es zu Hause entsprechend um.‹ Hier ist es schwer, den Schreiber ernst zu nehmen. Hätte Herr Beauvais auf seiner Suche nach Marie eine Leiche gefunden, die an Gestalt und Aussehen dem vermißten Mädchen ähnlich gewesen, so wäre er (ganz abgesehen von der Kleiderfrage) zu der Behauptung berechtigt gewesen; daß seine Suche Erfolg gehabt habe. Wenn außer der Übereinstimmung von Gestalt und Aussehen noch hinzukam, daß die Behaarung der Arme eine Eigenart aufwies, die er bei der lebenden Marie wahrgenommen, so mag seine Überzeugung sich verstärkt haben, und diese Zunahme wird zu der Seltsamkeit oder Ungewöhnlichkeit der Haarbildung im entsprechenden Verhältnis gestanden haben. Wenn überdies Maries Fuß schmal und jener der Leiche ebenso gewesen, so würde die Wahrscheinlichkeit, daß diese Leiche die der Marie war, nicht eine Verstärkung in lediglich arithmetischer, sondern eine solche in geometrischer oder akkumulativer Hinsicht erfahren. Und zu alledem Schuhe, wie Marie sie am Tage ihres Verschwindens getragen! Obgleich diese Schuhe ›bündelweise‹ verkauft werden, so steigt doch nun die Wahrscheinlichkeit bis an die Grenze der Gewißheit. Was an und für sich kein Identitätsbeweis wäre, wird durch ein Zusammentreffen mit anderen zum sichersten Beweis. Finden wir nun noch Blumen auf dem Hut, die denen des vermißten Mädchens gleichen, so suchen wir keine weiteren Zeichen. Schon eine Blume würde genügen – wie nun, wenn es zwei oder drei oder gar mehr sind? Jede hinzukommende vervielfältigt den Beweis, fügt nicht Erkennungszeichen zu Erkennungszeichen, sondern multipliziert diese mit Hunderten und Tausenden. Lassen Sie uns nun noch bei der Leiche solche Strumpfbänder finden, wie die Lebende sie getragen, und es ist Torheit, noch weiter zu suchen. Doch diese Strumpfbänder sind durch Zurücksetzen einer Schnalle enger gemacht, in derselben Weise, wie Marie die ihrigen, nicht lange ehe sie von Hause fortging, verändert hatte. Nun ist es Wahnsinn oder Heuchelei, weiterzusuchen. Was ›L'Etoile‹ darüber sagt, daß solches Engernähen der Strumpfbänder häufig vorgenommen werde, zeigt nichts als seine eigene Verranntheit. Die Elastizität der Strumpfbänder beweist allein schon die Ungewöhnlichkeit einer solchen Maßnahme. Was so beschaffen ist, daß es sich selbst anpaßt, braucht notwendigerweise nur selten passend geändert zu werden. Es muß im wahrsten Sinne des Wortes ein besonderes Ereignis gewesen sein, was das Engernähen von Maries Strumpfbändern nötig machte. Sie allein hätten ihre Identität zur Genüge nachgewiesen. Aber es war nun nicht so, daß man an der Leiche die Strumpfbänder der Vermißten oder ihre Schuhe, oder ihren Hut, oder die Blumen ihres Hutes fand, oder ihre kleinen Füße, oder ein besonderes Kennzeichen auf den Armen, oder ihre Größe und Erscheinung – man fand vielmehr jedes dieser Dinge und alle zusammen. ›L'Etoile‹