»Ach, wer wird denn gleich ein solch trübes Gesicht machen!« sagte sie ebenso einschmeichelnd beschwichtigend, wie sie mit ihrer kleinen Schutzbefohlenen zu reden gewohnt war. »Meine ich Sie denn etwa speziell mit dieser Schilderung?... I, Gott soll mich bewahren! Ich wäre ja mit dem besten Willen nicht einmal imstande, mir die schöne Jutta von Zweiflingen in einer solchen Lage zu denken, obwohl ich an manchem schönen, gefeierten Mädchen erfahren habe, wohin solche Neigungsheiraten führen können... Sehen Sie, da wird alles, was das Leben schmückt, nach und nach als Ballast über Bord geworfen... Das geliebte Klavier steht verstaubt und verschlossen in der Ecke, die eleganten Bücher und Stickereien verschwinden vom Nähtisch, dafür liegen schmutzige Abc-Bücher und Schreibhefte umher, und ein Korb voll zerrissener Wäsche wartet auf neue Flicken – ich kenne das... Die junge Frau streicht die bewunderten Locken glatt hinter das Ohr oder unter die Haube – das sieht häßlich aus – aber was tut's? Sie braucht nicht mehr schön zu sein, es sieht sie ja niemand!«
Jutta sprang auf, warf wortlos, aber mit einer leidenschaftlichen Gebärde die Locken zurück und trat an das Klavier... Was auch in dieser Brust vorgehen mochte, es war jedenfalls ein heftiger Aufruhr, der sie in fliegenden Atemzügen hob und senkte.
Die junge Dame schlug den Deckel des Instrumentes zurück, und in den Sessel niedergleitend, begann sie eine wildaufbrausende ungarische Volksweise kraftvoll und energisch mit denselben Händen, die vorhin zu »schwach und angegriffen« gewesen waren, das Kind der Pfarrerin auch nur einen Augenblick zu halten... Wie Perlenschnüre rollten die kühnen Passagen; es war ein Gewoge von Tönen, aus denen die Grundmelodie immer wieder auftauchte, und mit ihr wilde Zigeunergesichter, glühend angestrahlt vom Lagerfeuer, nächtliche, über die weite Pußta hinfliegende Reiter, umtobt von mähneflatternden Roßherden, sterbende Helden und kühne Räubergestalten – und diese fremdartigen Gebilde, in denen ein heißes Blut pulsierte, rauschten durch die kleinen Eckfenster hinaus in das keusche, feierliche Schweigen der herabsinkenden heiligen Nacht. Das Gebirge reckte seine dunklen Glieder aufwärts, und der goldflimmernde Himmel spannte sich von einem Bergscheitel zu dem anderen, Kluft und Tiefen ausgleichend, wie der große Versöhnungsgedanke des Gekreuzigten sich breitet über jenes zerklüftete Schöpfungswerk, das wir die Menschheit nennen... Und diese Menschheit? Sie schärft seine milden Worte zu Schwertern, mit denen sie sich selbst zerfleischt. Der Baalsglaube macht jenen Stern des Heils, den einst die Hirten über der kleinen Erde aufgehen sahen, zum stummen Götzen und verfolgt den lebendigen Geist, der von ihm ausgegossen, mit blindem Vandaleneifer – umsonst, er leuchtet! Und mit seinem mächtigen Wort: »Es werde Licht!« hat Gott selbst gewollt, daß die Nacht nie mehr »die Herrschende« werde!
5
Noch waren die letzten stürmischen Akkorde unter Juttas Händen nicht verhallt, als die Pfarrerin zur Tür hereinsah. Dieses leuchtende, lebensfrohe Gesicht zeigte nicht die mindeste Spur des Gekränktseins – das war ein Gemüt, das rasch mit sich fertig wurde; »die können ja nicht wissen, wie einem Mutterherzen zumute ist –« hatte sie versöhnend gedacht, und damit war der Groll verflogen.
Sie rief herein, daß die Bescherung nun vor sich gehen könne. Die kleine Gräfin erfaßte ihre Hand, Jutta schlug den Klavierdeckel zu, und Frau von Herbeck erhob sich langsam, mit einem so verbindlichen Lächeln aus der weichen Sofaecke, als sei nie ein arger Gedanke gegen jene Frau an der Tür in ihre Seele gekommen.
Unten in seinem engen Studierstübchen saß der Pfarrer bereits am kleinen, altersschwachen Spinett. – Das war freilich kein Kopf, wie ihn so mancher Eiferer auf der Kanzel sehen will. Diese Züge waren nicht abgeblaßt in der düsteren Glut des Fanatismus; keine Spur jener eisernen Unbeugsamkeit und Intoleranz des finsteren Glaubenseiferers lag auf der Stirne, und das Haupt beugte sich nicht gegen die Brust in dem Bestreben, der Welt ein lebendiges Beispiel christlicher Demut zu sein – er war ein echter Sohn des Thüringer Waldes, eine kraftvolle, markige Gestalt mit breiter Brust, hellen Gesichtszügen und einer so leuchtend offenen Stirne unter dem vollen, dunkeln Kraushaar, als könne kein Gedanke verborgen dahinter weggleiten... Um ihn her standen seine Kinder, pausbäckige Köpfchen, wie sie drüben in der Kirche über und neben der alten Orgel als Seraphim und Cherubim schwebten. Alle die strahlenden Blauaugen hingen erwartungsvoll an dem Gesicht des Vaters. Er begrüßte die eintretenden Damen mit einer stummen Verbeugung, dann griff er voll in die Tasten, und feierlich, glockenhell setzten die Kinder ein: »Ehre sei Gott in der Höhe, der Herr ist geboren.«
Beim Schlusse des Verses öffnete die Pfarrerin langsam die Tür der Nebenstube, und der Glanz des Weihnachtsbaumes floß heraus. Die Kinder stürzten nicht jubelnd hinüber – scheu traten sie über die Schwelle; das war ja gar nicht die liebe, alte Wohnstube, deren Wände allabendlich in dem Halbdunkel der schwach leuchtenden Talgkerze verschwanden! Der kleine Spiegel, die Glasscheiben über den wenigen Bildern strömten eine wahre Lichtflut wider, und selbst auf den alten, mattglänzenden Ofenkacheln hüpfte ja ein Lichtlein...
Die kleine Gräfin aber stand da mit dem Ausdruck der Enttäuschung im Gesicht – das sollte ein Christbaum sein? Diese arme kleine Fichte mit den wenigen fadendünnen Wachsstengeln auf den Zweigen? Unscheinbar kleine, rote Äpfel, Nüsse, die das vornehme, kränkelnde Kind nicht einmal essen durfte, und einige zweifelhafte Figuren aus braunem Pfefferkuchen – das waren die ganzen Wunderdinge, die sich da droben schaukelten! Und drunten auf dem groben, weißen Tischtuch lagen Schiefertafeln, Schreibhefte, Bleistifte – lauter Dinge, die sich ganz von selbst verstehen; deshalb hätte doch das Christkindchen nicht vom Himmel herabzusteigen gebraucht!... Und doch, wie jubelten die Kinder jetzt, nachdem die Scheu überwunden war! Das stumme Befremden der kleinen Gräfin bemerkten sie nicht – sie hätten es ja nicht einmal begriffen; sie sahen auch nicht das impertinente Lächeln, das bereits beim Anstimmen des Chorals auf Frau von Herbecks Gesicht erschienen war und sich auch jetzt noch behauptete; erkannten doch selbst die Eltern die Natur dieses Lächelns nicht – die Mutter lächelte ja auch, als ihre kleinen Mädchen schleunigst in die neuen, buntwollenen Unterröckchen krochen und ihr sogenannter »Dicker« schmunzelnd das »nagelneue« Höschen an seine strammen Beinchen hielt, das sie selbst in stiller Nacht und bei verschlossenen Türen aus dem allerersten schäbigen Kandidatenfrack des Herrn Pfarrers zurechtgeschneidert hatte. Und der Vater trug das jauchzende, lallende Fritzchen auf dem Arm – er hatte vollauf zu tun, alle die Merkwürdigkeiten pflichtschuldigst zu bewundern, die Hans Ruprecht in sein Haus gebracht –, ihm blieb keine Zeit, die Gesichter seiner Gäste zu prüfen.
Er zog sich übrigens, nachdem der Weihnachtsbaum ausgelöscht war, in seine Studierstube zurück; einer seiner Kollegen war plötzlich erkrankt, er hatte deshalb eine Predigt mehr für die Feiertage übernommen und mußte sich noch vorbereiten.
Frau von Herbeck und Jutta hatten sich gleich zu Anfang der Bescherung auf das Sofa geflüchtet – dort waren wenigstens die Kleidersäume in Sicherheit vor den rücksichtslosen »Pandurenfüßchen«. Nun wurde der vor ihnen stehende Tisch gedeckt; die alte Rosamunde brachte eine riesige Porzellankanne voll Tee aus der Küche, um die sie eine Schar blinkend sauberer Steinguttassen gruppierte, während die Pfarrerin einen Teller voll frischgebackenen Kuchens, eine Scheibe köstlicher Butter, Honig und ein derbes Schwarzbrot hinstellte.
Die kleine Gräfin wandte sich sogleich weg von diesem Weihnachtsschmaus – frischer Kuchen und Schwarzbrot waren ihr streng verboten. Sie kreuzte die Hände wie ein Professor auf dem Rücken und sah dem Treiben der anderen Kinder ernsthaft zu. Der »Dicke« saß auf einem grellrot angestrichenen Gaul und rollte unter »Hü!« und »Hott!« durch die Stube.
»Das ist ein sehr häßliches Pferd!« sagte Gisela, als er an ihr vorbeisauste.
Der begeisterte Reiter hielt erbost inne.
»Es ist nichts häßlich, was einem das Christkindchen bringt«, entgegnete er tief empört – sein kleines Herz war ja voll unsäglicher Dankbarkeit gegen das Christkindchen.
»Wirkliche Pferde sind gar nicht so rot und haben auch niemals solche steifen Schwänze«, kritisierte das kleine Mädchen unbeirrt weiter. »Ich will dir lieber meinen Elefanten schenken – der läuft von selber durchs