‚Neugierig bin ich doch, was die tun werden.’
Es ist schon bald Abendessenszeit, also nach fünf, als seine Zellentür sich wieder öffnet. Drei Mann hoch treten sie ein: Polizeiinspektor, Pfarrer und Hauptwachtmeister. Die Tür wird sorgsam angezogen. Kufalt stellt sich unter das Fenster mit dem Gesicht gegen die Beamten und wartet.
Der Pfarrer spricht zuerst: „Kufalt, hören Sie. Es ist da ein Versehen vorgekommen, es wird sich noch aufklären. Heute ist ein Brief eingegangen für Sie...“
„Ja, ich weiß. Herr Hauptwachtmeister hat mir schon gesagt. Von meinem Schwager, mit Geld.“
„Hab nichts gesagt“, grollt der Hauptwachtmeister. „Lügst. Gar nichts. Sie haben's gesagt.“
„Nein, nicht mit Geld, mein lieber, junger Freund. Es war – ein Schlüssel darin.“
„So?“ fragt Kufalt gedehnt. „Darf ich den Brief haben –?“
„Das ist es eben. Der Brief ist verlegt. Er wird sich wieder anfinden. Aber Sie gehen morgen schon ab...“
„Verlegt?“ fragt Kufalt. „Hier verschwindet doch nichts? Warum soll ich das Geld nicht haben? Herr Polizeiinspektor, der Direktor hat auch angeordnet, dass ich meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt bekomme, und die von der Abfertigung wollen mir nur sechs Mark geben. Das ist doch ungerecht. Wenn Herr Direktor es anordnet...“
„Nun, nun, Kufalt, immer ruhig! Darüber ließe sich vielleicht reden. Aber...“
„Aber das Geld von meinem Schwager, das ist mein Geld! Das müssen Sie mir aushändigen. Warum wollen Sie mir den Brief nicht geben –?“
„Kufalt“, sagt der Hauptwachtmeister, „mach kein Quatsch! Es ist kein Geld darin gewesen. Der Pastor weiß es bestimmt. Der Brief ist mir weggekommen.“
„Ich hatte Ihren Brief gerade gelesen“, sagt nun wieder der Pastor. „Ihr Schwager schrieb Ihnen gar nicht selbst, er ließ Ihnen durch seinen Prokuristen sagen, er könnte Ihnen nicht helfen. Und Geld wollte er Ihnen auch nicht geben, Sie hätten ja Ihre Arbeitsbelohnung...“
„Die soll ich ja auch nicht kriegen.“
„Aber Ihr Schwager schickt Ihnen einen Teil Ihrer Sachen. Das andere können Sie später haben.“
„Ich hab' mich erkundigt, Kufalt. Ihr Koffer ist schon da. Sie können ihn ausnahmsweise heute nach Einschluss einsehen, wir lassen ihn in Ihrer Gegenwart aufmachen. Der Hausvater bleibt extra Ihretwegen hier.“ Der Polizeiinspektor ist so sanft...
„Kufalt“, sagt der Hauptwachtmeister, „der Brief ist wirklich weg. Wenn Sie darauf bestehen, muss der Polizeiinspektor eine Meldung schreiben und ich bin haftbar.“
Der Polizeiinspektor sagt: „Sie sind doch ein Mann von Bildung und Verstand, Kufalt. Warum wollen Sie dem Herrn Rusch Schwierigkeiten machen? Versehen kommen überall vor.“ Kufalt sieht sich die drei an. Er sagt: „Und wie mir beim Baden meine Strümpfe geklaut wurden, da kriegt ich drei Tage Entziehung der warmen Kost und musste sie von meiner Arbeitsbelohnung bezahlen, nicht? Das haben Sie damals angeordnet, Herr Inspektor! Warum soll denn Rusch ohne Strafe ausgehen, wenn er sich Briefe klauen lässt?“
Alle drei sind bei dem nackten ‚Rusch’ zusammengezuckt.
Dann sagt der Pastor: „Man muss auch verzeihen können, lieber Kufalt. Sie werden auch Fehler machen und der Verzeihung bedürfen.“
Aber nun ist es bei Kufalt alle. Er schreit wütend: „Gehen Sie raus aus meiner Zelle, Herr Pastor! Gehen Sie raus! Ich schlag' alles in den Klump. Und Sie, Herr Inspektor, gehen Sie auch raus!“
„Ich finde, Sie werden unverschämt...“ bricht der Inspektor los.
Und der Pastor: „Schämen Sie sich, Kufalt...“
Aber Rusch ist energisch: „Bitte doch, bitte!“
Sie gehen. Gehen mit bösen Blicken. Und sind weg.
Kufalt steht da und sieht die Tür an. Er ist immer noch wütend, er hat rot gesehen, er sagt hastig: „Warum bringen Sie die mit, Herr Hauptwachtmeister? Solche Lügner wie die. Das macht mich wild, wenn ich die Schleicher nur sehe! – Sie haben mir nie was vorgemacht, Herr Hauptwachtmeister, versprechen Sie mir, dass ich morgen meine Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriege?“
„Versprech' ich dir, Kufalt.“
„Geben Sie den Zettel her, ich unterschreibe, dass ich den Brief bekommen habe.“
Der Hauptwachtmeister gibt den Zettel nicht her, er denkt nach:
„Woher wissen Sie denn, dass es ein Einschreibebrief war, Kufalt?“
„Na, mein Schwager wird doch einen Schlüssel nicht in einem einfachen Brief schicken!“
Rusch denkt immer noch nach.
Kufalt setzt fort: „Wo sogar Einschreibebriefe verschwinden –?“
Der Hauptwachtmeister zieht den Zettel aus der Tasche: „Kufalt, bist en Aas. Na, unterschreib schon. Kriegst dein Geld – trotzdem.“
* * *
13
Es ist am Vormittag des anderen Tages, gegen elf Uhr.
Kufalt steht in der Abgangszelle. Sein Handkoffer, der von Schwager Pause nachgesandte große Handkoffer, neben ihm. Er steht und wartet.
Die Zeit kriecht, nichts kann er tun. Er hat Bücher im Koffer, aber wer kann jetzt lesen? In zwei Stunden sind fünf Jahre herum, in zwei Stunden ist er ein freier Mensch, kann hingehen, wohin er will, kann sprechen, zu wem er mag, kann mit einem Mädchen ausgehen, Wein trinken, sich ins Kino setzen ... nein, es ist immer noch nicht vorstellbar ... er ist immer noch so gefangen...
Keine Glocke mehr morgens. Kein Pensum mehr zu stricken. Keine Gehässigkeiten mehr mit anderen Gefangenen. Kein Papps des Mittags. Kein Zellenwienern. Keine Sorge, ob der Tabak auch reicht. Kein Wachtmeister, kein stinkender Kübel, keine schlottrige Kluft ... es ist nicht auszudenken.
Wie fest der Anzug sitzt! Im Bauch sogar zu stramm, trotzdem er Westen- und Hosenschnallen auf hat, er hat einen Bauch gekriegt von der Wasserkost. Es hat Zeiten gegeben, wo er mittags zwei Liter Essen und dann noch einen Schlag verdrückt hat. Auf dem Bauch hat er eine Uhr, seine silberne Konfirmationsuhr. Sie zeigt die Zeit, es ist elf Uhr achtzehn.
Die anderen sind schon über vier Stunden draußen, schön dumm ist er gewesen, dass er nicht auch das noch herausgepresst hat aus Rusch. Die sind weg – und der Bastel, der Hausvaterkalfaktor, hat ihm beim Einkleiden erzählt, dass auch Sethe weg ist. Gleich früh haben sie ihn gefragt, ob er die Strafe annimmt wegen Beamtenbeleidigung, sonst muss er hierbleiben ... nun, er hat sie angenommen. Er wird Bewährungsfrist kriegen. Immerhin ... Schweine sind das hier. Schweine. Und alle werden Schweine. Ein Schwein ist auch er gewesen mit dem Brief gestern Abend, ein Schwein ist er gewesen mit dem Hundertmarkschein, tausendmal ist er ein Schwein gewesen diese fünf Jahre. Und was hat es für einen Zweck gehabt –? Anders herum wäre er auch zur gleichen Stunde herausgekommen – aber mit anderen Gefühlen.
Nun ist es jedenfalls zu Ende. Er wird von nun an genau das tun, was recht ist, er will ruhig schlafen können. Keine Sorgen mehr haben, nur keine Sorgen mehr! Wenn er auch den Hunderter mit rausnimmt. Das ist das letzte Mal, dass er so was tut.
Kufalt läuft auf und ab, hin und her. Die Zelle ist wieder so hell. Ein herrlicher Tag ist draußen. All diese letzten Tage ist die Zelle immer so hell gewesen wie alle Jahre vorher nicht. Hoffentlich bleibt das Wetter gut, wenn er draußen ist...
Nur