"Norma Jeane wurde vom Fotografen Potter Hueth zum Hotel gebracht. Sie trug ein einfaches weißes Kleid und war mit ihrem Modelportfolio bewaffnet, das nur ein paar ausgewählte Schnappschüsse bot (...) Bei einem Modeljob würde man nicht unbedingt ein weißes Kleid tragen, und es war so sauber und weiß und gebügelt und leuchtend wie sie selbst."
Während Snively die von Hueth auf ihrem Schreibtisch ausgebreiteten Fotos inspiziert, starrt Norma Jeane auf die Magazincovers und Publicityfotos an den Wänden des Büros und sagt:
"Das sind die hübschesten Mädchen, die ich jemals gesehen habe."
Dann, zu Snively gewandt: "Glauben Sie, dass ein Bild von mir jemals auf einem Magazincover erscheinen könnte?"
"Natürlich", antwortet Snively. "Du bist ein Naturtalent."
Später notiert sie die Körpermaße von Norma Jeane und Details ihrer Erscheinung: Kleidergröße 34/36 ("size 12"), Körpergröße 167 cm, Busen 91, Taille 61, Hüfte 86, blaue Augen, perfekte Zähne und blonde lockige Haare.
Norma Jeanes strahlend weiße Zähne mögen für die an ein Fotomodel gestellten Ansprüche perfekt gewesen sein, der leichte Überbiss der Schneidezähne wird aber drei Jahre später, 1948, auf Anregung von Fred Karger korrigiert, der in dieser Zeit bei der Columbia Pictures ihr Gesangscoach ist. Snivelys Angabe von "size 12" hat später zu der falschen Vorstellung geführt, dass Marilyn pummelig gewesen sei, weil die heutige "size 12" der Größe 40 entspricht. Wie die von Snively angegebenen Körpermaße zeigen, liegt der Brustumfang aber im Bereich des heutigen Medium und der Rest im Small-Bereich. In den 1980ern waren in den USA die Kleidergrößen geändert worden, so dass eine heutige "size 12" ungefähr den Maßen 38-30-40 (inches) entspricht und keineswegs den Maßen 36-24-34 (inches), wie Snively sie notiert hat. Diese fallen vielmehr unter die Kleidergrößen 4-6, also Small bis Medium.
Norma Jeanes Haare sind, so die Blue-Book-Chefin, "eigentlich dunkelblond. Kalifornienblond, was heißt, dass sie im Winter dunkel und im Sommer hell sind. Ich erinnere mich daran, dass sie sehr nahe am Kopf gekringelt und ganz widerspenstig waren. Ich wusste sofort, dass sie gebleicht und bearbeitet werden müssten".
Auf Snivelys Frage, ob sie singen könne, antwortet Norma Jeane: "Nur ein bisschen." Auch tanzen könne sie nur "ein bisschen", und einen Ehrgeiz, Schauspielerin zu werden, habe sie "überhaupt nicht". Diese Angabe ist überaus seltsam, da Norma Jeane bis zu diesem Zeitpunkt ihren Traum von einer Filmkarriere öfters zum Ausdruck gebracht hat. Nach ihrem Alter gefragt sagt sie "20", obwohl sie gerade erst 19 geworden ist. Astrid Franse vermutet, Norma Jeane habe vielleicht befürchtet, als Teenager keine Anstellung zu bekommen. Allerdings, so Franse, wären solche Bedenken unnötig gewesen, da die Blue Book Agentur oft Kinder und Jugendliche ausgebildet und als Models beschäftigt hat.
Auf die Frage nach ihrer eigenen Garderobe antwortet Norma Jeane bescheiden, sie hätte ein paar Sachen, "aber nicht viele". Nach Snivelys Erinnerung besaß sie ein weißes Kleid ähnlich dem, das sie bei ihrer Vorstellung im Ambassador Hotel trug und das Snively zufolge "toll" an ihr aussah, da es vorne sehr eng anlag, die Brüste betonte und die Aufmerksamkeit auf die Figur zog. Normalerweise wären Models vor weißer Kleidung aber zurückgeschreckt. Ansonsten hätte Norma Jeane nur über einen Badeanzug und einen dunkeltürkisen Männeranzug verfügt, "der ihr nicht gut stand". Just diesen Anzug trägt sie bei ihrem ersten bezahlten Modeljob für die American Airlines. Um in den Agenturkatalog, das Blue Book, aufgenommen zu werden, bezahlt Norma Jeane 25 Dollar.
Snivelys Truppe besteht zu jedem Zeitpunkt aus etwa 20 Mädchen mit einiger Erfahrung im Modelgeschäft. Hinzu kommen Mädchen wie Norma Jeane, die viel versprechen, aber noch trainiert werden müssen, um professionellen Anforderungen zu genügen. Viele von ihnen streben nach einer Filmkarriere, weil Modeljobs in Los Angeles nicht gut bezahlt sind. Die Agentur dient den Mädchen vornehmlich als Sprungbrett ins Filmgeschäft oder nach New York, wo das Posieren vor der Kamera mehr Geld einbringt. Die von Snively und ihrer Mutter Myrtle 1936 gründete Model-Schule mit dem Namen "Village School" war im Januar 1944 von Westwood ins Ambassador Hotel am Wilshire Boulevard verlagert und der Name in "Blue Book Modeling Agency" geändert worden, um den erweiterten Geschäftsbereich anzuzeigen: Zusätzlich zu ihrem spezifischen Training werden Models nun auch an Klienten vermittelt. Dieser Wechsel liegt perfekt im Trend der Zeit, da sich die Verlagsund Werbebranchen in einem Umbruch befinden und der Bedarf an hübschen Frauen für Werbefotos, Zeitschriftencovers und Produktmessen ansteigt. Auch in der Filmindustrie wächst die Nachfrage nach ansehnlichen Nebendarstellerinnen in Kleinstrollen, deren Gage hoch genug ist, um prozentual beteiligten Agenturen ein erkleckliches Nebeneinkommen zu sichern.
Es dauert aber nicht lange, bis Los Angeles das Gerücht aufkommt, die Blue Book betreibe hauptsächlich einen Escortservice für Gäste des Hotel Ambassador, also eine verdeckte Form der Prostitution. Deshalb hat das LAPD ein Auge auf die Agentur. Snively gibt zu, dass "viele meiner Mädchen, deren Ehemänner in Übersee waren, an manchen Tagen in der Woche Dates hatten. Aber nicht Norma Jeane. Sie war nur an seriöser Arbeit interessiert". Laut William Carroll ist die Agentur, wie bei Banner nachzulesen, mit einem Callgirl Ring assoziiert. Snivelys Models ist es, ihm zufolge, freigestellt, Abstand zu halten oder sich lukrativ daran zu beteiligen. Hauptberufliche Callgirls sind im Ambassador regelmäßig anzutreffen. Bestandteil des Hotelkomplexes ist auch der Coconut Grove Nightclub, ein Glanzpunkt im Hollywooder Nachtleben.
Das ´Blaue Buch´ ist ein jährlich herausgegebener Modelkatalog, dem zufolge die Zielsetzung der Agentur lautet, "Mädchen für eine Laufbahn als Schauspielerinnen, Fotomodels und Fashionmodels auszubilden, mit individuellem Unterricht in Charme und Haltung, Erfolg und Schönheit und mit individueller Förderung". Die Agentur veranstaltet auch Schönheitswettbewerbe wie ´Miss May´ und ´Miss Summer´, an denen Norma Jeane aber nicht teilnimmt, weil sie noch mit Jim verheiratet ist. Assoziiert ist die Blue Book mit 40 Geschäften, einem Frisiersalon und dem Fotostudio von Erwin ´Steinie´ Steinmeyer, der viele Probeaufnahmen der Models macht.
Snively hat ein klares Prinzip: Sie engagiert nur Mädchen, an deren Erfolg sie nicht zweifelt und die nach ausreichendem Training ganz sicher Arbeit finden werden. Weniger seriöse Agenturen lassen für den eigenen Profit auch Mädchen mit unsicheren Chancen Geld in ein Training investieren, das sich für sie später nicht bezahlt macht. In Snivelys früherer "Village School" waren die meisten Mädchen aus wohlhabenden Familien gekommen und und planten keine Modelkarriere, sondern wollten nur erlernen, wie sie ihren Männern als schön anzuschauendes Accessoire auf Parties und geschäftlichen Veranstaltungen zur Seite stehen können.
Neben ihrem Training in gesellschaftlichem Auftreten und Posieren vor der Kamera bei Snively absolviert Norma Jeane einen Kurs in Make-up und Schönheitspflege bei Maria Smith und einen Fashion-Kurs bei Mrs. Gavin Beardsley. Am 2. September werden Probeaufnahmen von ihr und acht anderen Models auf dem Gelände des Ambassador Hotels gemacht. Ab dem 5. September erarbeitet sie sich die Kosten für die drei Monate dauernden Kurse in Höhe von 100 Dollar auf einer kalifornischen Industriemesse. Gewandet in ein langes schwarzes Kleid mit einer Blume am Busen spricht sie zehn Tage lang als Hostess der Holga Steel Company mit Besuchern, händigt ihnen Prospekte aus und demonstriert ihnen einen Aktenschrank aus Aluminium. Mailer stellt sich in seiner Marilyn-Biographie vor, wie Norma ihre ungewohnte Umgebung empfunden haben könnte. Er verschweigt dabei nicht, dass sie zu dieser Zeit noch nicht die Schönheit der späteren Jahre besitzt:
"Malen wir uns einmal aus, wie sie auf dieser Messe agiert: Ihr Haar ist dunkelblond, fast braun, lang und zu dicht gewellt, ihre kleine Nase ist noch gar nicht klein —sondern im Gegenteil geradezu knollig— und ihre Oberlippe etwas zu kurz. Sie lächelt, und ihre Nase wirkt dabei leicht etwas zu lang (...), doch sind diese Mängel nichts im Vergleich zu ihrer Ausstrahlung. Sie macht die Entdeckung, dass es Männer sind, die sich da um ihren Stand drängen — keine Boys, keine Soldaten, sondern Männer. Geschäftsleute, leitende Angestellte, die von nichts anderem reden als von ´Abschlüssen´, scheinen sie zu mögen. Seriöse Herren also und keinen kleinen Angeber sind es, die sich für sie interessieren! Der Ehrgeiz beginnt klar und deutlich an ihr zu nagen."