»Wozu lebt ein solcher Mensch!« stieß Dmitri Fjodorowitsch dumpf und außer sich vor Wut hervor; dabei zog er die Schultern so sehr nach oben, daß er wie verkrüppelt aussah. »Soll man ihm noch erlauben, die Erde durch seine Person zu entehren?« Er deutete mit der Hand auf seinen Vater und ließ seinen Blick in die Runde geben. Er hatte langsam und gemessen gesprochen.
»Hören Sie diesen Vatermörder, Sie Mönche!« schrie Fjodor Pawlowitsch, auf Vater Jossif zustürzend. »Da haben Sie die Antwort auf Ihre Meinung: ›Es ist eine Schmach!‹ Was ist eine Schmach? Dieses ›Geschöpf‹ diese liederliche Frauensperson ist vielleicht heiliger als Sie selbst, meine Herren Priestermönche, die Sie hier Ihrem Seelenheil leben! Durch schlechten Umgang wurde sie vielleicht in der Jugend verleitet; aber sie hat viel geliebt – und einer, die viel liebte, hat Christus vergeben.«
»Christus hat nicht solcher Liebe wegen vergeben!« rief der sanfte Vater Jossif ungeduldig und heftig.
»Doch! Um solcher Liebe, gerade um solcher Liebe willen, meine Herren Mönche! Sie suchen durch Kohlessen Ihre Seelen zu retten und halten sich für Gerechte! Sie essen Gründlinge, täglich einen, und glauben mit den Gründlingen Gottes Gnade zu gewinnen!«
»Das ist unerträglich!« rief es von allen Seiten der Zelle.
Die ungehörige Szene fand ein unerwartetes Ende. Auf einmal erhob sich der Starez. Aljoscha, der aus Angst um ihn und die anderen beinahe den Kopf verloren hatte, fand gerade noch Zeit, ihn am Arm zu stützen. Der Starez ging auf Dmitri Fjodorowitsch zu und ließ sich, als er ganz nahe vor ihm stand, auf die Knie nieder. Aljoscha glaubte, es geschähe aus Schwäche, aber das war nicht der Fall. Nachdem der Starez niedergekniet war, verbeugte er sich tief und mit voller Absicht vor Dmitri Fjodorowitsch, wobei seine Stirn sogar den Boden berührte. Aljoscha war so erstaunt, daß er nicht einmal rechtzeitig zugriff, als sich der Starez wieder erhob. Ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln schimmerte auf dessen Lippen.
»Verzeihen Sie! Verzeihen Sie alle!« sagte er und verbeugte sich vor allen Gästen.
Dmitri Fjodorowitsch stand einen Augenblick wie vom Donner gerührt, vor ihm eine tiefe Verbeugung, was sollte das heißen? Dann rief er: »O Gott!«, verbarg das Gesicht in den Händen und stützte aus dem Zimmer. Ihm nach drängten auch alle anderen Gäste, ohne sich in der Verwirrung vom Hausherrn zu verabschieden und sich vor ihm zu verbeugen. Nur die Priestermönche traten an ihn heran und ließen sich segnen.
»Was wollte er sagen mit dieser tiefen Verbeugung? Es war wohl eine symbolische Handlung?« Mit diesen Worten versuchte Fjodor Pawlowitsch, plötzlich merkwürdig friedlich, ein Gespräch anzuknüpfen, wagte aber nicht, sich direkt an jemand zu wenden. In diesem Augenblick hatten sie die Mauer erreicht und verließen die Einsiedelei.
»Ich verstehe mich nicht auf Irrenhäuser und Irre«, antwortete Miussow erbost. »Aber ich verzichte nunmehr auf Ihre Gesellschaft, Fjodor Pawlowitsch, und zwar für immer. Wo ist denn dieser Mönch von vorhin?«
»Dieser Mönch von vorhin«, derjenige, der sie zum Mittagessen beim Abt eingeladen hatte, ließ nicht auf sich warten. Als die Gäste aus der Haustür des Starez traten, empfing er sie, als hätte er sie die ganze Zeit erwartet.
»Haben Sie die Güte, geehrter Vater, dem Vater Abt meine größte Hochachtung auszusprechen und mich für meine Person, Miussow, bei Seiner Hochehrwürden zu entschuldigen. Ich kann wegen unvorhergesehener Umstände trotz meines aufrichtigsten Wunsches nicht die Ehre haben, an seinem Mittagsmahl teilzunehmen«, sagte Pjotr Alexandrowitsch gereizt zu dem Mönch. »Ich bin der unvorhergesehene Umstand!« unterbrach ihn Fjodor Pawlowitsch. »Hören Sie, Vater. Pjotr Alexandrowitsch möchte nur nicht mit mir zusammenbleiben, sonst würde er sofort hingehen. Aber Sie werden hingehen, Pjotr Alexandrowitsch. Gehen Sie ruhig zum Vater Abt, ich wünsche Ihnen guten Appetit! Ich lehne nämlich die Einladung ab, also brauchen Sie es nicht zu tun. Nach Hause, nach Hause! Zu Hause werde ich essen! Hier bin ich außerstande, mein liebenswürdiger Verwandter Pjotr Alexandrowitsch!«
»Ich bin nicht Ihr Verwandter! Bin es niemals gewesen. Sie sind ein gemeiner Mensch!«
»Ich habe das absichtlich gesagt, um Sie zu ärgern, weil Sie die Verwandtschaft ableugnen! Und Sie sind doch mein Verwandter, Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen, ich werde es Ihnen aus den Kirchenregistern beweisen! Iwan Fjodorowitsch, ich werde dir rechtzeitig den Wagen schicken, bleib also ebenfalls, wenn du willst! Und Ihnen, Pjotr Alexandrowitsch, gebietet schon der Anstand, beim Vater Abt zu erscheinen. Einer muß doch um Entschuldigung bitten wegen der Dinge, die Sie und ich dort angestellt haben...«
»Ist es wahr, daß Sie wegfahren? Lügen Sie auch nicht?«
»Pjotr Alexandrowitsch, wie könnte ich mich dort zeigen – nach allem, was vorgefallen ist? Ich habe mich hinreißen lassen! Verzeihen Sie, meine Herren, ich habe mich hinreißen lassen! Und außerdem bin ich erschüttert. Und ich schäme mich. Meine Herren, der eine hat ein Herz wie Alexander der Große und der andere eins wie das Schoßhündchen Fidelka. Ich habe eins wie das Schoßhündchen Fidelka. Ich habe den Mut verloren! Wie könnte ich nach solchen Eskapaden zu einem Essen ins Kloster gehen? Ich schäme mich; ich kann nicht, entschuldigen Sie mich!«
›Der Teufel mag sich in dem auskennen! Wenn er mich nun betrügt?‹ dachte Miussow, blieb nachdenklich stehen und sah argwöhnisch zu, wie der Possenreißer sich entfernte. Dieser drehte sich noch einmal um, und als er bemerkte, daß Pjotr Alexandrowitsch ihm nachsah, warf er ihm eine Kußhand zu.
»Und Sie? Gehen Sie auch zum Abt?« fragte Miussow schroff Iwan Fjodorowitsch.
»Warum nicht? Ich bin ohnehin schon gestern vom Abt besonders eingeladen worden.«
»Leider fühle ich mich tatsächlich fast gezwungen, dieses verdammte Diner mitzumachen«, fuhr Miussow mit derselben erbitterten Gereiztheit fort, ohne sich um den zuhörenden Mönch zu kümmern. »Wir müssen uns wenigstens entschuldigen wegen der vorgefallenen Dinge und erklären, daß wir nicht schuld waren ... Wie denken Sie darüber?«
»Ja, wir müssen allerdings erklären, daß uns keine Schuld trifft. Außerdem ist mein Vater nicht dabei«, bemerkte Iwan Fjodorowitsch.
»Das fehlte noch, daß Ihr Vater dabei wäre! Dieses verdammte Diner!«
Dennoch gingen alle hin. Der Mönch hörte schweigend zu. Au dem Weg durch das Wäldchen ließ er die Bemerkung fallen, der Vater Abt warte schon lange, sie kämen über eine halbe Stunde zu spät. Er erhielt jedoch keine Antwort. Miussow blickte voll Haß auf Iwan Fjodorowitsch.
›Da geht er nun zum Essen, als wäre nicht das geringste geschehen!‹ dachte er. ›Eine eherne Stirn und ein Karamasowsches Gewissen!‹
7. Ein Seminarist und Karrierist
Aljoscha führte den Starez ins Schlafgemach und ließ ihn sich aufs Bett setzen. Das Schlafzimmer war sehr klein und besaß nur die notwendigsten Möbel; auf dem schmalen Eisenbett lag statt einer Matratze nur eine Filzdecke. In der Ecke, bei den Ikonen, stand ein Lesepult mit einem Kreuz und einem Evangelienbuch darauf. Der Starez ließ sich kraftlos aufs Bett sinken, seine Augen glänzten, er atmete nur mühsam. Als er sich gesetzt hatte, schaute er Aljoscha lange und nachdenklich an.
»Geh nur, mein Lieber, geh nur. Mir genügt auch Porfiri. Du beeile dich! Du wirst dort benötigt. Geh zum Vater Abt und warte beim Mittagsmahl auf!«
»Erlauben Sie mir hierzubleiben!« bat Aljoscha.
»Du wirst dort nötiger gebraucht. Dort ist kein Friede. Du wirst dort aufwarten und nützlich sein. Wenn sich die bösen Geister erheben, so sprich ein Gebet! Und wisse, lieber Sohn ...« So nannte ihn der Starez gern. »Auch künftig ist hier nicht dein Platz. Vergiß das nicht, Jüngling! Sobald mich Gott gewürdigt haben wird, in die Ewigkeit hinüberzuwandeln, geh fort aus dem Kloster! Ganz fort!«
Aljoscha zuckte zusammen.
»Was hast du? Vorläufig ist dein Platz nicht hier. Ich segne dich für einen großen Dienst in der Welt. Du wirst noch viel wandern müssen.