»Sie scheinen ein bißchen zu fiebern?« fragte die gewandte Dame.
»Nicht nur ein bißchen, sondern vielmehr recht stark; darum habe ich mich auch in die Mantille gewickelt«, antwortete Nastasja Filippowna, die tatsächlich blasser geworden war und ab und zu ein heftiges Zittern in ihrem Körper zu unterdrücken schien.
Alle Gäste gerieten in Unruhe und Bewegung.
»Sollten wir nicht unserer Wirtin Ruhe gönnen?« sagte Tozki, indem er Iwan Fjodorowitsch ansah.
»Durchaus nicht, meine Herrschaften! Ich bitte Sie dringend, sitzenzubleiben. Ihre Anwesenheit ist besonders heute für mich ein Ding der Notwendigkeit«, erklärte Nastasja Filippowna nachdrücklich und bedeutsam.
Und da fast alle Gäste schon wußten, daß an diesem Abend eine sehr wichtige Entscheidung gefällt werden sollte, so erschienen diese Worte besonders schwerwiegend. Der General und Tozki wechselten wieder einen Blick miteinander. Ganja machte krampfhafte Bewegungen.
»Es wäre ganz nett, wenn wir ein Gesellschaftsspiel spielten«, sagte die gewandte Dame.
»Ich kenne ein prachtvolles, neues Gesellschaftsspiel«, erklärte Ferdyschtschenko. »Ich weiß nur von einem Fall, wo es auf der Welt gespielt wurde, und auch da gelang es nicht.«
»Was ist das für ein Spiel?« fragte die gewandte Dame.
»Wir waren einmal ein ganze Gesellschaft zusammen, nun, und wir hatten ein bißchen getrunken, das ist richtig, und da machte einer den Vorschlag, es sollte jeder von uns, ohne vom Tisch aufzustehen, laut etwas von sich erzählen, aber etwas, was er selbst nach bestem Wissen und Gewissen für die schlechteste Handlung von allen schlechten Handlungen halte, die er im Laufe seines ganzen Lebens begangen habe; aber Vorschrift solle dabei sein, daß wahrheitsgemäß erzählt werden müsse; das war die Hauptsache: jeder sollte wahrheitsgemäß erzählen und nicht lügen.«
»Eine sonderbare Idee«, sagte der General.
»Sehr sonderbar allerdings, Exzellenz, aber eben darum gut.«
»Ein komischer Gedanke«, meinte Tozki, »der übrigens begreiflich ist: es steckt eine eigenartige Renommage dahinter.«
»Vielleicht war gerade das die Absicht, Afanasi Iwanowitsch.«
»Aber bei einem solchen Gesellschaftsspiel kommt man ja zum Weinen und nicht zum Lachen«, bemerkte die gewandte Dame.
»Eine ganz unmögliche, absurde Sache!« rief Ptizyn.
»Und ist es denn gelungen?« fragte Nastasja Filippowna.
»Das ist es ja eben, daß es nicht gelang; die Geschichte wurde schließlich widerwärtig. Jeder erzählte wirklich etwas, viele die Wahrheit, und denken Sie sich: manche erzählten sogar mit Vergnügen. Aber dann fing ein jeder an, sich zu schämen, und das Spiel konnte nicht weiter durchgeführt werden! Im ganzen war es übrigens recht vergnüglich, das heißt, in seiner Art.«
»Nein, wirklich, das wäre schön!« bemerkte Nastasja Filippowna, die auf einmal ganz lebendig wurde. »Das sollten wir wirklich probieren, meine Herrschaften! Wir scheinen in der Tat nicht in besonders heiterer Stimmung zu sein. Wenn jeder von uns damit einverstanden wäre, etwas zu erzählen ... etwas in dieser Art ... selbstverständlich nur, wenn er einverstanden ist ... jeder muß seinen freien Willen haben, nicht wahr? Vielleicht können wir es durchführen. Wenigstens ist es sehr originell.«
»Ja, es ist ein genialer Gedanke!« fügte Ferdyschtschenko bekräftigend hinzu. »Die Damen sind übrigens dispensiert; die Herren machen den Anfang; die Ordnung wird durch das Los bestimmt, wie wir es auch damals machten! Wir wollen es unbedingt tun, unbedingt! Wer absolut nicht will, braucht natürlich nicht zu erzählen; aber dazu müßte schon einer besonders unliebenswürdig sein! Geben Sie Ihre Lose her, meine Herren, hierher, mir; legen Sie sie in meinen Hut; der Fürst wird sie ziehen. Es ist eine ganz leichte Aufgabe, die schlechteste Handlung aus seinem ganzen Leben zu erzählen – das ist sehr leicht, meine Herren! Nun, Sie werden ja selbst sehen! Wenn aber jemand etwas vergessen sollte, so werde ich sogleich seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«
Die Idee war höchst sonderbar und gefiel fast niemandem. Die einen machten finstere Gesichter; andere lächelten schlau. Manche erhoben Einwendungen, wiewohl nicht sehr energisch, so zum Beispiel Iwan Fjodorowitsch, der Nastasja Filippowna nicht hinderlich sein mochte und bemerkte, wie sehr dieser sonderbare Einfall, vielleicht eben deswegen, weil er sonderbar und beinah undurchführbar war, sie reizte. Wenn Nastasja Filippowna sich einmal entschlossen hatte, ihre Wünsche auszusprechen, so ließ sie sich auch nicht mehr zurückhalten und kannte keine Rücksichten, mochten auch diese Wünsche noch so kapriziös und für sie selbst ganz nutzlos sein. Und jetzt befand sie sich in einer Art von hysterischem Zustand; sie entwickelte eine unruhige Geschäftigkeit und lachte krampfhaft und in einzelnen Anfällen, namentlich bei den Einwendungen des beunruhigten Tozki. Ihre dunklen Augen funkelten; auf ihren blassen Wangen traten zwei rote Flecken hervor. Der bedrückte, mürrische Gesichtsausdruck mancher ihrer Gäste steigerte ihren spottlustigen Wunsch vielleicht noch mehr; vielleicht gefielen ihr gerade der Zynismus und die Grausamkeit, die in dieser Idee lagen. Manche waren sogar überzeugt, daß sie da einen besonderen Zweck verfolge. Indessen begannen die Gäste, sich einverstanden zu erklären: jedenfalls war die Sache interessant und für viele sogar sehr verlockend. Am eifrigsten von allen zeigte sich Ferdyschtschenko.
»Aber wenn nun etwas von der Art ist, daß man es in Damengesellschaft unmöglich erzählen kann?« bemerkte der schweigsame Jüngling schüchtern.
»Dann erzählen Sie es nicht! Als ob es nicht auch ohne das genug schlechte Handlungen gäbe!« erwiderte Ferdyschtschenko. »Ei, ei, Sie junger Mann!«
»Aber ich weiß gar nicht, welche meiner Handlungen ich für die schlechteste halten soll«, warf die gewandte Dame ein.
»Die Damen sind von der Pflicht, zu erzählen, dispensiert«, wiederholte Ferdyschtschenko, »aber eben nur dispensiert: wenn sie sich aus freien Stücken dazu erbieten, so wird das mit dankbarer Anerkennung aufgenommen. Die Herren aber werden nur dispensiert, wenn sie durchaus nicht wollen.«
»Aber wie soll ich da beweisen, daß ich nicht lüge?« fragte Ganja. »Wenn ich aber lüge, so verliert das ganze Spiel seinen Sinn. Und wer wird denn nicht lügen? Jeder wird es unfehlbar tun.«
»Aber auch das ist schon reizvoll, zu sehen, wie jemand dann lügt. Und was dich betrifft, Ganja, so brauchst du dich vor dem Lügen nicht besonders zu fürchten, da deine schlechteste Handlung sowieso schon allen bekannt ist. Und denken Sie nur, meine Herrschaften«, rief Ferdyschtschenko ganz enthusiastisch, »denken Sie nur, mit was für Augen wir nachher einander ansehen werden, zum Beispiel morgen, nach diesen Erzählungen!«
»Aber ist's möglich? Soll denn das wirklich Ernst sein, Nastasja Filippowna?« fragte Tozki würdevoll.
»Wer sich vor dem Wolf fürchtet, soll nicht in den Wald gehen!« versetzte Nastasja Filippowna lächelnd.
»Aber erlauben Sie, Herr Ferdyschtschenko, wie kann man denn daraus ein Gesellschaftsspiel machen?« fuhr Tozki, der immer unruhiger wurde, fort. »Ich versichere Ihnen, daß solche Dinge nie gelingen; Sie sagen ja selbst, daß es schon einmal mißglückt ist.«
»Wieso mißglückt? Ich habe das vorige Mal erzählt, wie ich drei Rubel gestohlen habe; das habe ich ganz einfach und ohne weiteres erzählt!«
»Wenn auch. Aber Sie konnten es doch unmöglich so erzählen, daß es wahrscheinlich klang und man es Ihnen glaubte. Und Gawrila Ardalionowitsch hat ganz richtig bemerkt, daß das Spiel jeden Sinn verliert, sobald man der Erzählung anzumerken glaubt, daß sie nicht wahr ist. Die Wahrheit wird dabei nur dann gesagt werden, wenn sich jemand zufällig in einer eigenartigen, unfeinen, prahlerischen Stimmung befindet, eine Stimmung, die hier undenkbar ist und durchaus unpassend sein würde.«
»Aber