Dr. Ferdinand schaut nach den Patienten auf der Intensiv-Station. Er trägt die klinischen Daten in die Krankenblätter ein und wünscht den Schwestern, die ihre Nachtschicht begonnen haben, eine ruhige Nacht. Auf dem Weg zur Wohnstelle überquert er den Vorplatz mit dem Uringeruch. Der Himmel hat sich blutrot gefärbt. Glühend senkt sich der Sonnenball dem Horizont entgegen. Vor dem Ausgangstor dreht er sich noch einmal um und blickt zur Rezeption. Doch mit der Unabhängigkeit ist die nächtliche Ausgangssperre verschwunden. Die Menschen werden nicht mehr gezwungen, mit Kindern und alten Menschen auf Pappen und Zeitungspapier auf dem harten Beton vor der Rezeption bis zum Sonnenaufgang zu übernachten.
Was dennoch drückt, ist das Fehlen strahlender Gesichter. Die Armut drückt hart auf die Familien. Hinzu kommt das Wegsterben junger Menschen durch AIDS. Meist sind es die jungen Frauen. Sie lassen ihre Kinder als Waisen zurück. Da kommen auf die Alten mit der kleinen Rente die Waisenkinder noch dazu. Sie müssen die hilflosen Kinder ernähren und aufziehen, wenn es an der Tante fehlt, die auch vom Virus befallen ist und entkräftet in den letzten Zügen liegt. Eine traurige Feststellung ist auch, dass junge Menschen häufiger als vor der Unabhängigkeit sich mit dem Strick um den Hals erhängen.
Ferdinand nimmt den Weg an den fünf Caravan-Häusern vorbei, die nun von Einheimischen bewohnt werden, die vorher in der ‘Lokasie’ gewohnt haben. Die Häuser sehen ungepflegt und verkommen aus. Nur am ersten Haus, in dem Sarah mit ihren zwei kleinen Kindern wohnt, sind die Fenster geputzt und die fünf Treppenstiegen gefegt. Es ist der Weg, den Ferdinand am Vortag auch genommen hat. Er öffnet und schließt das Zufahrtstor und überquert den kleinen Vorplatz vor dem Haus. Das Telefon klingelt, als er die Eingangstür aufschließt und die Tür öffnet. Er eilt zum Telefon, das aufhörte zu klingeln, als er nach dem Hörer greift.
Er streift die Sandalen mit den schweißnassen Korksohlen von den Füßen und zieht das durchschwitzte Hemd vom Körper. Er zündet sich eine Zigarette an, setzt sich auf den Terrassenabsatz und sieht dem untergehenden Feuerball nach, der mit dem Versinken die Glutbänder vom Abendhimmel hinter den Horizont zurückzieht. Mit der ersten Dämmerung erscheint der Abendstern über der auffahrenden Mondsichel, als stünde der Steuermann mit erleuchteter Stirnlampe in der Gondel zur Abfahrt bereit. Bei diesem Anblick kommen die Verse aus der Bhagavadgïtã in den Sinn:
Das Wissen mitsamt dem Erkennen werd’ ich dir verkünden ohne Rest.
Wenn du’s erkannt hast, bleibt dir hier nichts anderes zu erkennen mehr übrig.
Unter den Tausenden von Menschen strebt kaum einer nach Vollendung.
Von den erfolgreich Strebenden kennt kaum einer mich in Wahrheit.
(7. Gesang: Der erhabene Bhagavat spricht zum Helden Arjuna.)
Ferdinand spricht die Zeilen langsam und hört den Worten nach. Sie fliegen in die Dämmerung hinaus, wo sie in der Auflösung der Buchstaben die Schwere des Körperlichen abstreifen. Sie formen Wolken, aus denen der große Regen kommt, der die Menschen vor der Trockenheit und dem Hungertod bewahrt. In der Stille vollziehen sich die gesprochenen Metamorphosen. Doch weit ist der ersehnte Frieden. Er ist für die Worte unerreichbar. Ferdinand ordnet den schwingenden Worten mit den ausschwingenden Silben und den weiterschwingenden Gedanken die Klänge aus Beethovens Andante aus der Mondscheinsonate zu und summt die Zeilen mit dem wörtlich Gedachten bis ans Ende der Musik. Dabei betrachtet er den Abendhimmel mit den aufkommenden Sternen und versucht, die Tagesschwere abzustreifen und sich dem Kosmos einzufügen. Sein Wunsch ist es, in die Nacht fortgetragen zu werden, um den Frieden zu finden.
Er zündet sich die Zigarette an und sieht in die auffahrende Mondsichel, wie sie nun ohne Steuermann durchs Sternenmeer gondelt und bereit ist, neue Passagiere aufzunehmen. Er folgt im Geiste Platos Höhlengleichnis von den zwei Welten und Erkenntniswegen, vom Aufstieg und Abstieg und ihren Risiken, von der doppelten Blindheit aus gegensätzlicher Ursache, von der Weisheit der Wahrheit und vom Übersteigen der menschlichen Erkenntnis.
Er empfindet nach, wie die Ketten von den Fesseln gelöst werden, um der Welt mit den ewigen Schatten zu entfliehen und die Wirklichkeit im Licht des Universums mit den Augen zu bestaunen. Es ist ein feierlicher Anblick. Die Weite und Tiefe in den Kosmos hinein erschüttert ihn. Beim längeren Hineinblicken beginnen die Augen zu schmerzen. Die universale Größe hat sie entzündet. Sprachlos sitzt er auf dem Terrassenabsatz. Die Fülle der aufkommenden Gedanken reißt ihn wie in einem Strom weg. Er hört, wie sein Herz beklommen schlägt.
Ferdinand ist ergriffen von der Unfähigkeit, die Wirklichkeit in ihrer kompakten Fülle, wie er sie erlebt, mit eigenen Worten zu bezeichnen beziehungsweise wiederzugeben. Dabei spürt er im tiefen Durchatmen, wie er von der fesselnden Last befreit wird, wie ihm das beklemmende Gefühl aus dem Hals und dem Brustkorb genommen wird. Die Ketten fallen ihm von den Gelenken. In der freien Bewegung beginnen die Gelenke abzuschwellen. Er fühlt sich besser, je länger er unterm Sternenhimmel sitzt und seine Gedanken mit der Mondsichel weiter gondeln lässt, die ihn in die Tiefe des gestirnten Universums hineinträgt. Zwei Fragen kommen auf ihn zu: Erstens, wie kann es der Mensch in der Höhle so lange aushalten; zweitens, warum bleibt der Mensch in der Höhle, wenn er die Gelegenheit hat, die Wirklichkeit im Licht mit eigenen Augen zu sehen.
Bei der nächtlichen Fahrt durch den Sternenhimmel berührt Ferdinand, wenn auch nur lose, die Arbeit am Hospital. Die Faulheit und die Angst, Verantwortung zu tragen, haben seiner Meinung nach mit der Höhle zu tun. Es besteht das Defizit an Wissen, das erschreckend ist. Doch noch erschreckender ist der Unwille, hart zu lernen, um die Wissenlücken in kürzester Zeit zu schließen. Denn das schuldet der Arzt dem Patienten. Jede Nachlässigkeit kann fatale Folgen haben. Es ist notwendig, sich ein gründliches Urteil über die Arbeit am Menschen zu bilden. Aber das ist nur möglich, wenn sich der Arzt von den Klischees befreit, die den Schattenbildern an der Höhlenwand entsprechen. Die Arzteinbildung muss durch die solide Arztbildung ersetzt werden. Von daher ist es schädlich, bei der Ausübung des ärztlichen Berufes nach politischen Seitenwegen zu schielen, die doch nur der persönlichen Eitelkeit mit den finanziellen Zulagen dienen.
Die taktischen Seitenwege sind ein Rückfall in die Unfreiheit, wenn der Mensch aufgrund des fehlenden Wissens von der Wahrheit und durch charakterliche Schwächen in die Finsternis verkettet wird. Um ein nützlicher Arzt zu sein, muss der Mensch gesund, frei, stark im Charakter und motiviert sein. Der Arzt muss sehen und aufmerksam zuhören, was ihm der Patient in seiner Not sagt beziehungsweise sagen will.
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