Neve versuchte sich daran, es lesen zu können. Die neuen Augen von Sam machten es ihr noch etwas schwer. In ihren alten konnte sie sofort lesen was Sam dachte und fühlte. Aber diese neuen Augen waren etwas anders. Sie waren dunkler und tiefer.
»Du bist unglaublich«, flüsterte Sam. Fragend hob Neve eine Augenbraue.
»Du weißt schon was du da eben getan hast, oder?« Mit einem Schlag fühlte sich Neve schuldig. Verurteilte Sam sie in diesem Moment tatsächlich? Missfiel es ihr, dass Neve ihrem Boss den Arsch gerettet und seinen Kopf aus der Schlinge gezogen hat? War es ihr zuwider, dass eine FBI Agentin einem Kriminellen dabei half seine Spuren zu verwischen?
Neve wusste nicht wie sie auf diesen einen Satz von Sam reagieren sollte. Auf so eine Konfrontation war sie nicht vorbereitet. Daher straffte sie ihre Körperhaltung. Sie legte ihre entspannte Haltung ab. Ihre Statur wuchs dadurch nur wenige Zentimeter.
»Ich bin und bleibe ein Hund. Das ändert nichts daran, was auf meinem monatlichen Gehaltsscheck steht.« Neve spürte leichten Zorn in sich aufsteigen. Wieso verurteilte Sam sie wegen dem was sie eben tat? Sie beide sprachen Stunden über diesen Spagat, den Neve damit täglich absolvieren muss. Sie waren sich einig, dass beide es schaffen würden. Dass sie es akzeptieren und tolerieren.
»Das meinte ich nicht.« Neve stutzte. Nicht? Was meinte sie dann?
»Ja, du hast einem Verbrecher dabei geholfen, seine Spuren zu verwischen, das stimmt. Aber du hast das mit solch einer Eleganz, Selbstsicherheit und Intensität getan, dass du einem damit vollkommen in einen Bann gezogen hast. Dir liegt das alles so sehr im Blut, dass du diese Seite von dir niemals ablegen könntest, egal wie mächtig dein innerer Hund sein mag. Du hast diese beiden Seiten in dir. Eine Gute und eine Böse und du schaffst es tatsächlich, diese beiden Seiten voneinander zu trennen. Sie auseinanderhalten zu können, ohne dich dabei selbst zu verraten. Und das ist es was dich so unglaublich macht.«
Auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, atmete Neve erleichtert aus. Sie glaubte eine hitzige Diskussion mit Sam beginnen zu müssen. Sie vergaß tatsächlich für einen Moment, dass Sam weiß, dass sie ihre Hunde niemals verraten würde, oder ihren Job vernachlässigte.
Sam machte einen letzten Schritt auf Neve zu. Ihre Augen sahen besorgt aus.
»Hast du tatsächlich geglaubt, ich würde an dir zweifeln? Daran zweifeln, dass du ein Hund und eine FBI Agentin sein kannst? Dass du diesen Spagat nicht schaffen würdest?« Neve wurde nervös. Ihre Augen wanderten hektisch durch den Flur. Sie glaubte tatsächlich für einen kleinen Augenblick an diese Dinge. Dass Sam ihr nicht glaubte was sie da tat. Dass sie es verurteilen würde. Dass sie die Hunde früher oder später verraten würde, weil sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnte.
Eigentlich hätte Sam Recht haben können. Neve ist mit Leib und Seele Bulle. Das Gesetz liegt ihr trotz allem im Blut. Für sie ist es eine Lebensaufgabe dieses zu vertreten, auch wenn gerade diese verdammten Paragraphen soviel Scheiße mit ihnen gebaut haben. Dennoch weiß Neve, dass sie diesen Teil ihres Lebens nicht einfach ablegen kann. Dafür ist er zu tief verankert. Zu sehr ein wichtiger Teil von ihr. Sie wünschte sich als Kind nichts Sehnlicheres als zur Polizei zu gehen. Und als sie das dann schaffte, ging sie in dieser Tätigkeit auf. Sie liebte und lebte diesen Job. Mit jeder Faser ihres Körpers. Sie hätte noch solange als Hund dagegen ankämpfen können, ihr Blut hätte sie nicht verleugnen können. Sie war dem Gesetz gegenüber loyal. Aber ebenso war sie ein Hund. Ein Hund, der damals Morde beging und eine verdammt dunkle Seite von sich preisgab. Neve tötete ganz offen, oder mit List, aber sie tötete. Erschreckenderweise sogar mit einer gewissen Leidenschaft. Sie verkaufte Waffen und Drogen und machte der Polizei das Leben schwer. Sie trieb auf eine unglaublich feinfühlige und intelligente Art die Verbrechenszahlen in Frisco fast ins Unermessliche. Und sie hatte Spaß daran. Sie liebte es ihre ehemaligen Kollegen zu verarschen und an der Nase herumzuführen. Sie machte sich einen Spaß daraus, falsche Fährten zu legen und falsche Spuren zu falschen Personen führen zu lassen. Sie war Matt gegenüber ebenso loyal wie der Polizei. Und das alles nur wegen einer einzigen Frau. Die Frau die ihr gegenüberstand und sie nachdenklich anschaute. Wenn es Sam nicht geben würde, wäre Neve noch immer Detective beim Department und würde durch die Straßen streifen. Aber die Liebe zu dieser jungen südländischen Frau, hat einen fast anderen Menschen aus ihr gemacht. Sie weiß, dass sie dem Gesetz und den Hunden gegenüber gleich loyal sein kann, ohne sich dabei selbst zu verraten. Für Außenstehende mag das unverständlich wirken, aber für sie selbst war es eine Erfüllung. Sie fühlte sich mit diesen beiden Seiten erstmals vollständig. Sie hatte diese gute Seite und vertrat das Gesetz. Und sie hatte diese böse Seite, mit der sie eben dieses hinterging. Unverständlich, aber diese beiden Seiten in sich, vervollständigten sie.
Neve senkte den Kopf. Angestrengt atmete sie laut aus. Sie zog die Schultern hoch.
»Keine Ahnung. Irgendwie ist das für mich auch noch etwas komisch. Aber ich weiß, dass ich das schaffen werde.«
»Daran zweifle ich nicht eine Sekunde«, hauchte Sam, als sie einen letzten Schritt auf Neve zumachte. Sie stand ihr jetzt so dicht gegenüber, dass Neve keine andere Möglichkeit hatte, als den Kopf zu heben und sie anzusehen. Es war unglaublich. Auch mit diesen neuen Augen, schaute Sam sie mit so einem ausdrucksstarken Blick an, dass Neve fast für eine Sekunde ihre Tochter vergessen und sie am liebsten ins Schlafzimmer gezogen hätte.
Neve hob einen Arm. Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über Sams vollen Lippen. Verträumt schaute sie dem Finger nach.
»Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich schon manchmal deinen alten Körper vermisse. Dieser hier ist faszinierend, sexy und atemberaubend, aber er ist eben nicht…« Neve suchte die richtigen Worte.
»… nicht Sam.« Anstatt gekrängt zu wirken, lächelte Sam spitzbübisch.
»Wenn du so ein großes Verlangen nach meinem alten Körper hast, kann ich ihn dir gerne ausgraben. Ich weiß allerdings nicht wie weit der Verwesungsprozess vorangeschritten ist, oder ob die Maden und Würmer noch etwas davon übrig gelassen haben. Damit kennst du dich besser aus«, gluckste sie frech. Erschrocken und zugleich angeekelt riss Neve die Augen auf.
»Boah, du bist widerlich«, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. Sam hatte als Antwort darauf nur ein kurzes Lachen, als sie wie ein Wiesel vor Neve flüchtete. Die ältere Frau wollte sich nicht mit einem so ekelerregenden Gedanken abfertigen lassen, den sich Sam als Spaß ausdachte und rannte ihr hinterher.
Auch wenn Precious den Grund dafür nicht kannte, weshalb sich ihre Mütter lachend durch das Haus jagten, hüpfte sie dennoch vom Hocker des Tresens und rannte ihnen quietschend hinterher.
***
Neve schaut flüchtig zu Nortons Büro. Ihren neuen Vorgesetzten kann sie ebenso wenig leiden, wie Norton. Allerdings aus einem ganz anderen Grund. Dieser Grünschnabel kam frisch von der Uni. So kam es ihr jedenfalls vor, als dieser Jungspund der Abteilung vor drei Jahren vorgestellt wurde. Sicherlich hat der noch nie eine Leiche gesehen, noch nie Blut gerochen, oder dabei zusehen müssen, wie Gliedmaßen zusammengesucht werden mussten, damit der Körper als eine Einheit beerdigt werden konnte. Sicherlich wohnte er auch noch nie einer Autopsie bei.
Als sie Jill das erste Mal zu so einer mitnahm, musste sie innerlich schon etwas schmunzeln. Sehr zum Leidwesen von Jill, hoffte sie, dass sie ihrer Kollegin eine Brechtüte reichen konnte. Oder sie zumindest heldenhaft auffangen konnte, wenn diese in Ohnmacht fiel, nur weil der Brustkorb des Leichnams aufgeschnitten wurde. Allerdings kam alles anders als es sich Neve erhoffte. Jill stand interessiert neben ihr und beobachtete den Rechtsmediziner bei seiner Arbeit. Sie stellte Fragen, saugte die Antworten wissbegierig auf, beugte sich über den Körper und blickte fasziniert über die menschlichen Innereien. Selbst als der Rechtsmediziner das Herz des Opfers aus dem Körper nahm, um es zu wiegen, stand Jill noch auf ihren Beinen. Sie folgte ihm zur Waage und beobachtete jede seiner Handlungen.