Jetzt konnte mir nur noch ein Arzt helfen. Aber das war leichter gesagt als getan. Denn ich war seit mindestens fünf Jahren in keiner Arztpraxis mehr gewesen. Ich hatte nicht mal einen Hausarzt, zu dem ich hätte gehen können. Nun musste ich mir überlegen, wo ich hingehen sollte. Da mir auf Anhieb kein Mediziner einfiel, schob ich diese Entscheidung auf und sagte den nächsten Termin bei der Heilpraktikerin telefonisch ab.
In den darauf folgenden Tagen versuchte ich, meine körperlichen Beschwerden zu verdrängen. Es gelang mir halbwegs gut. Dafür verließ ich kaum das Haus, aus Angst, diese verdammte Schwärze könnte mich erneut aufsuchen. Zu Hause fühlte ich mich sicher. Wenn ich einen Anflug von Unwohlsein spürte, setzte oder legte ich mich hin, bis es vorbei ging. Unterwegs war es dagegen nicht so einfach. Meist fand ich keine Sitzgelegenheit, wenn mir schlecht wurde. Sobald der Wechsel zwischen heiß und kalt auftrat, hatte ich das Bedürfnis mich hinzusetzen. Durch die gefühlten Temperaturschwankungen kündigte sich die Schwärze an. Wenn ich die Dunkelheit vor Augen sah, bestand die Gefahr umzukippen. Bisher passierte es zwar nie, aber ich hatte jedes Mal das Gefühl, es könnte geschehen. Ich malte mir die schlimmsten Situationen aus - wie ich mit dem Kopf auf einen Stein knallte - und wurde immer ängstlicher, alleine raus zu gehen. Wenn ich das Haus verließ, um frische Luft zu schnappen, ging ich nur in den Garten. Dort fühlte ich mich sicher. Denn ich wusste, sobald es mir schlechter ging, konnte ich jederzeit ins Haus zurückkehren.
6. Kapitel
Als ich eines Morgens aufwachte, dachte ich, es würde mit mir zu Ende gehen. Dieses Flimmern vor meinen Augen war plötzlich so stark, wie noch nie zuvor. Ich hatte Angst, es könnte von Tag zu Tag schlimmer werden, bis es irgendwann ganz mit mir vorbei wäre.
Max bemerkte natürlich, wie mies es mir ging und fragte: »Wann willst du endlich einen Termin bei einem Arzt machen? Das kann doch so nicht weiter gehen!«
»Bald. Sobald ich mich etwas besser fühle, werde ich mir einen Arzt suchen. Ich muss nur schauen, bei welchem ich einen Termin machen kann.«
Wir wussten beide, mein Gesundheitszustand würde sich so schnell nicht ändern. Vielmehr war der Aufschub für mich eine Ausrede, weil die Angst vor einer Diagnose immer drastischer wurde. Umso schlechter es mir ging, desto größer wurde meine Sorge, was am Ende herauskam. Max schien es zu ahnen und lief zum Wohnzimmerschrank. Er holte den Versicherungsordner raus und blätterte darin. Wenig später griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. Noch begriff ich nicht, wen er anrief. Erst, nachdem er nach einem guten Internisten in unserem Umkreis fragte, verstand ich, wen er am anderen Ende der Leitung hatte. Max telefonierte mit meiner Krankenversicherung.
Er notierte sich die Daten von drei Ärzten und gab mir den Zettel mit den Worten: »So, hier hast du die Nummern von drei Internisten in der Umgebung. Jetzt musst du dir nur einen davon aussuchen!«
Ich nahm das Stück Papier und sah mir an, wo die Ärzte ihre Praxen hatten. Bevor ich es wieder verdrängen konnte, griff ich nach dem Telefon und wählte die erste Nummer. Es sprang nur ein Anrufbeantworter an. Auf dem Band lief eine Ansage, dass die Praxis wegen Urlaub geschlossen war. Ich hätte mich noch eine Woche gedulden müssen, bevor ich jemanden erreichen konnte. So lange wollte ich keinesfalls warten. Ich wusste, wenn ich nicht sofort anrief, würde ich es nie tun. Also wählte ich die zweite Nummer. Dieses Mal hatte ich mehr Glück. Eine nette Frauenstimme meldete sich. Ich erzählte ihr von meinen Beschwerden und bat um einen Termin. Die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung fragte mich, ob ich gleich in die Praxis kommen könnte, da an diesem Tag nicht so viel los sei.
»Natürlich. Ich mache mich sofort auf den Weg«, sagte ich erleichtert.
Ich war hin- und hergerissen. Einerseits freute ich mich, so schnell einen Termin zu bekommen. Andererseits hatte ich erneut meine Zweifel, ob der Arzt etwas taugen würde. Eine Praxis, in der nichts los war, hinterließ bei mir immer einen schlechten Eindruck. Wieder glaubte ich, der Arzt könnte inkompetent sein, wenn er keine Patienten hatte. Und dann war da noch die Angst vor der Diagnose im Hinterkopf, die mich nervös werden ließ. Bei dem Gedanken, in der nächsten Stunde zu erfahren, was ich hatte, zitterte ich am ganzen Körper.
In meiner Verzweiflung wollte ich es dennoch auf einen Versuch ankommen lassen. Viel schlechter als jetzt konnte es mir nach dem Arztbesuch nicht gehen. Ich hatte die Hoffnung, in Kürze beschwerdefrei zu sein. Das gab mir die Kraft, den Arzttermin wahrzunehmen. Die Angst vor der Diagnose saß dennoch tief in meinem Kopf verborgen. Ich musste mich zusammenreißen, positiv zu denken und mir einzureden, es würde alles gut werden.
Max erklärte sich sofort bereit, mich hinzufahren. Ich war glücklich über seine Unterstützung. Wer weiß, ob ich es allein geschafft hätte. Schon bei dem Gedanken selbst Auto fahren zu müssen, wurde mir mulmig. Meine Furcht vor dem, was passieren könnte, wenn die Dunkelheit zurückkehrte, war einfach zu groß.
In Max seinen Augen erkannte ich Erleichterung. Auch wenn er nichts sagte, wusste ich, er war froh über den schnellen Termin. In den Wochen, in denen es mir so schlecht ging, sah ich ihm des Öfteren an, wie sehr ihn die Situation belastete. Da er mich besser kannte, als jeder andere Mensch auf der Welt, sagte Max nichts. Er wusste, ich würde gereizt reagieren, sobald er mich auf das Thema angesprochen hätte. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er mich an diesem Tag förmlich zu einem Arztbesuch drängte. Normalerweise hasste ich es, wenn sich jemand einmischt und über mich bestimmen wollte. Aber jetzt war ich froh über Max seinen Einsatz. Ich alleine hätte noch einige Tage gebraucht, bevor ich mich selbst um einen geeigneten Arzt gekümmert hätte. Wenn ich es überhaupt geschafft hätte.
Ich hatte das Gefühl, als konnte Max meine Gedanken lesen. Er musste die Hilflosigkeit gespürt haben, der ich ausgesetzt war. Wir verstanden uns zwar schon von Anfang an fast blind. Manchmal sprachen wir zur selben Zeit das Gleiche aus. Aber bisher ging es nicht um mich, sondern um allgemeine Sachen.
Der Internist hatte seine Praxis im Nachbarort. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten und dann standen wir schon vor dem Praxisgebäude. Die Arzträume lagen in einem Mehrfamilienhaus im ersten Stock. Die Sprechstundenhilfe begrüßte uns freundlich und fragte, was sie für uns tun könne.
»Guten Tag! Wir haben gerade miteinander telefoniert. Sie sagten, ich könnte gleich vorbei kommen. Und hier bin ich«, antwortete ich und versuchte, mein Befinden zu überspielen.
Sie lächelte und fragte: »Haben Sie Ihre Versicherungskarte dabei?«
Ich gab ihr die Karte und bekam sie nach wenigen Minuten zurück.
»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick Platz«, sagte sie und zeigte auf das von der Anmeldung gegenüberliegende Wartezimmer.
Wir gingen hinein und sahen zwei weitere Patienten darin sitzen. Einerseits entkräftete es meine Befürchtung, der Arzt könnte nichts taugen. Aber es bedeutete auch, wir müssten mindestens noch eine halbe Stunde warten. Bei der Vorstellung wurde mir ein bisschen mulmig. Ich betete, dass mir während der Wartezeit die Schwärze vor meinen Augen erspart blieb. Denn ich wollte nicht vor völlig fremden Menschen umkippen. Wenn ich schon leide, will ich dabei wenigstens unbeobachtet sein.
Glücklicherweise wurde der erste Patient nach einigen Minuten aufgerufen. Wenig später rief die Sprechstundenhilfe den zweiten Patienten zu sich. Ich hörte heraus, dass er nicht zu dem Arzt in das Sprechzimmer, sondern nur ein Rezept haben wollte. Das bedeutete, ich wäre die Nächste. Ich war erleichtert über diese Neuigkeiten.
Nach einer Viertelstunde war es so weit. Ich wurde aufgerufen, in eines der drei Sprechzimmer geführt und gebeten Platz zu nehmen. Von dem Arzt gab es noch keine Spur. Es konnte aber nicht mehr allzu lange dauern, zumindest hatte mir das die Sprechstundenhilfe versichert.
Kaum hatte ich den Gedanken beendet, ging schon die Tür auf und ein kleiner, etwas korpulenter Herr im weißen Kittel