Für diesen unvermeidlichen Kampf gegen die Selbstbelügung gibt es kein vollkommenes Gerüstet- und Gepanzertsein. Denn wie in jedem Kriegshandwerk wird für stärkeren Küraß immer eine durchschlagskräftigere Kugel gefunden: und an jeder Wissenschaft des Herzens lernt gleichzeitig die Lüge mit. Sperrt ein Mensch ihr entschlossen die Türe zu, so wird sie sich schlangenhaft geschmeidig machen und durch die Ritzen kriechen. Durchforscht er psychologisch ihre Tücken und Findigkeiten, um sie zu parieren, so wird sie sich unfehlbar neue, geschicktere Finten und Paraden erlernen; wie ein Panther wird sie sich hinterlistig im Dunkel verstecken, um heimtückisch im ersten unbewachten Augenblick vorzuspringen: gerade also mit der Erkenntnisfähigkeit und psychologischen Nuancierung eines Menschen verfeinert und sublimiert sich seine Selbstbelügekunst. Solange einer nur grob und plump die Wahrheit handhabt, bleiben seine Lügen gleichfalls plump und leicht erkennbar; erst bei dem subtilen Erkenntnismenschen werden sie raffiniert und wieder nur dem Erkennenden erkenntlich, denn sie verkriechen sich in die verwirrendsten, verwegensten Täuscheformen, und ihre gefährlichste Maske ist immer die scheinbare Aufrichtigkeit. Wie Schlangen am liebsten unter Felsen und Gestein, so nisten die gefährlichsten Lügen am liebsten gerade im Schatten der großen, pathetischen, der scheinheroischen Geständnisse; man sei also in jeder Autobiographie gerade an jenen Stellen, wo sich der Erzähler am kühnsten, am überraschendsten entblößt und selbst attackiert, am sorgfältigsten auf der Hut, ob nicht gerade diese wilde Art der Beichte ein noch geheimeres Geständnis hinter ihrem lauten Sich-an-die-Brust-Schlagen zu verstecken sucht: es gibt ein Kraftmeiertum in der Selbstkonfession, das fast immer auf eine geheime Schwäche hindeutet. Denn zu dem Grundgeheimnis der Scham gehört, daß der Mensch lieber und leichter sein Grausigstes und Widerwärtigstes entblößt, als auch nur den winzigsten Wesenszug zu verraten, der ihn lächerlich machen könnte: die Furcht vor dem ironischen Lächeln ist immer und überall die gefährlichste Verführung in jeder Autobiographie. Selbst ein so ehrlich Wahrheitsgewillter wie Jean-Jacques Rousseau wird mit einer verdächtigen Gründlichkeit alle seine sexuellen Abwegigkeiten auspauken und reuig bekennen, er habe seine Kinder, er der Verfasser des »Émile«, des berühmten Erziehungstraktates, im Findelhause verkommen lassen, aber in Wirklichkeit deckt dies scheinheroische Eingestehen nur das weit menschlichere, aber ihm schwierigere zu, daß er wahrscheinlich nie Kinder gehabt hat, weil er unfähig war, solche zu zeugen. Tolstoi wird sich lieber als Hurer, Mörder, Dieb, Ehebrecher in seiner Beichte anprangern, statt mit einer Zeile die Kleinlichkeit einzugestehen, daß er ein Leben lang Dostojewski, seinen großen Rivalen, verkannte und ungroßmütig behandelte. Sich hinter einem Geständnis zu verstecken, gerade im Bekennen sich zu verschweigen, ist der geschickteste, der täuscherischeste Trick der Selbstlüge inmitten der Selbstdarstellung. Gottfried Keller hat einmal grimmig eben um dieser Ablenkungsmanöver willen alle Autobiographien ironisiert. »Der bekannte alle sieben Todsünden und verheimlichte, daß er an der linken Hand nur vier Finger habe; jener erzählt und beschreibt alle Leberflecken und Muttermälchen seines Rückens, allein daß ein falsches Zeugnis sein Gewissen drückt, verschweigt er wie das Grab. Wenn ich so alle miteinander vergleiche mit ihrer Aufrichtigkeit, die sie für kristallklar halten, so frage ich mich, gibt es einen aufrichtigen Menschen, und kann es ihn geben?«
Tatsächlich, absolute Wahrhaftigkeit von einem Menschen in seiner Selbstdarstellung (und überhaupt) zu verlangen, wäre so unsinnig wie eine absolute Gerechtigkeit, Freiheit und Vollendetheit innerhalb des irdischen Weltraums. Der leidenschaftlichste Vorsatz, der entschlossenste Wille, tatsachengetreu zu bleiben, wird ja von vornherein schon unmöglich durch die unleugbare Tatsache, daß wir überhaupt kein verläßliches Organ der Wahrheit besitzen, daß wir schon vor dem Einsetzen unserer Selbsterzählung von unserer Erinnerung bereits um die wirklichen Erlebnisbilder betrogen sind. Denn unser Gedächtnis ist keineswegs eine bürokratisch wohlgeordnete Registratur, wo in festgelegter Schrift, historisch verläßlich und unabänderlich, Akt an Akt, alle Tatsachen unseres Lebens dokumentarisch hinterlegt sind; was wir Gedächtnis nennen, ist eingebaut in die Bahn unseres Bluts und von seinen Wellen überströmt, ein lebendiges Organ, allen Wandlungen und Verwandlungen unterworfen und durchaus kein Gefrierschrank, kein stabiler Konservierungs-Apparat, in dem jedes einstige Gefühl sein natürliches Wesen, seinen urtümlichen Duft, seine historisch gewesene Form behält. In diesem Fließenden und Durchströmten, das wir eilfertig in einen Namen fassen und Gedächtnis nennen, verschieben sich die Ereignisse wie Kiesel am Grunde eines Bachs, sie schleifen sich eins am andern ab bis zur Unkenntlichkeit. Sie passen sich an, sie ordnen sich um, sie nehmen in geheimnisvoller Mimikry Form und Farbe unseres Wunschwillens an. Nichts oder fast gar nichts bleibt unentstellt erhalten in diesem transformatorischen Element; jeder spätere Eindruck verschattet den früheren, jede Neu-Erinnerung lügt die ursprüngliche bis zur Unkenntlichkeit und oft Gegenteiligkeit um. Stendhal hat als erster diese Unredlichkeit des Gedächtnisses und die eigene Unfähigkeit zur absoluten historischen Treue einbekannt; sein Geständnis, daß er nicht mehr unterscheiden könne, ob das Bild, das er als »Übergang über den Großen Sankt Bernhard« in sich finde, wirklich Erinnerung an die selbsterlebte Situation sei oder Erinnerung bloß an eine später gesehene Kupferstich-Darstellung dieser Situation, darf als klassisches Beispiel gelten. Und Marcel Proust, sein Geisterbe, führt diese Umstimmungsfähigkeit des Gedächtnisses noch schlagender an dem Exempel durch, wie der Knabe die Schauspielerin Berma in einer ihrer berühmtesten Rollen erlebt. Noch ehe er sie gesehen hat, baut er sich aus der Phantasie ein Vorgefühl, dieses Vorgefühl löst sich vollkommen und verschmilzt in dem unmittelbaren Sinneseindruck; dieser Eindruck wird wiederum getrübt durch die Meinung seines Nachbars, am nächsten Tage abermals verwischt und entstellt durch die Kritik der Zeitung; und als er Jahre später die gleiche Künstlerin in derselben Rolle sieht, er ein anderer und sie eine andere seitdem, vermag schließlich seine Erinnerung nicht mehr festzustellen, was eigentlich der ursprüngliche »wahre« Eindruck gewesen. Das mag als Symbol gelten für die Unverläßlichkeit jeder Erinnerung: das Gedächtnis, dieser scheinbar unerschütterliche Pegel aller Wahrhaftigkeit, ist selbst schon Feind der Wahrheit, denn ehe ein Mensch sein Leben zu schildern anheben kann, war in ihm ein Organ bereits produzierend statt reproduzierend tätig, das Gedächtnis hat unaufgefordert selbst schon alle dichterischen Funktionen geübt, so da sind: Auslese des Wesentlichen, Verstärkung und Verschattung, organische Gruppierung. Dank dieser schöpferischen Phantasiekraft des Gedächtnisses wird also unwillkürlich jeder Darsteller eigentlich Dichter seines Lebens: dies hat der weiseste Mensch unserer neuen Welt gewußt, Goethe, und der Titel seiner Autobiographie mit dem heroischen Titel »Dichtung und Wahrheit« gilt für jede Selbstkonfession.
Kann derart keiner »die« Wahrheit, die absolute seines eigenen Daseins aussagen, und muß jeder Selbstbekenner zwanghaft bis zu einem gewissen Grade Dichter seines Lebens werden, so wird doch gerade die Anstrengung, wahr zu bleiben, das Höchstmaß ethischer Ehrlichkeit in jedem Bekenner herausfordern. Zweifellos ist die »Pseudokonfession«, wie sie Goethe nennt, das Beichten sub rosa, in der durchsichtigen Verhüllung des Romans oder des Gedichts, ungleich leichter und oftmals auch im künstlerischen Sinne eindringlicher, als die Darstellung mit aufgezogenem Visier. Aber eben weil