Er blickte in den Spiegel und stellte sich unweigerlich weitere Fragen: Warum bin ich hier? Weshalb tue ich Tag für Tag dasselbe, ohne mich zu fragen: Warum und wofür?
Gedankenversunken zog er das Hemd an und knöpfte es zu. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Signal. Es war nicht jener elektronische Piepton, der jeden Morgen erklang. Dieses Geräusch hatte er noch nie zuvor gehört. Übermäßig laut und schrill tönte es aus allen Sirenen in der kleinen Wohnzelle. Pan schlug sich die Hände auf die Ohren und verließ das Badezimmer. In jedem Zimmer hing eine Sirene an der Decke, die ohne Unterbrechung die dröhnenden Warnsignale ausstieß. Er war mit seinen Gedanken nicht vertraut und unter Druck misslang es ihm erst recht, eine Lösung für das Problem zu finden.
Die Tür zur Wohnzelle schnellte auf. Mit einem Zischlaut verschwand sie in einem schmalen Spalt im Boden. Drei bewaffnete Polizisten in Schutzkleidung betraten den Flur, der in den offenen Wohn- und Schlafraum überging.
Mit der Polizei war Pan noch nie in Konflikt geraten. Er hatte sich auch zu keinem Zeitpunkt etwas zuschulden kommen lassen.
»Auf den Boden! Sofort!«, schrie einer der Polizisten. Die Mündungen ihrer Waffen richteten die gepanzerten Riesen auf seinen Kopf.
»Hände hinter den Kopf und ab auf die Knie!«, rief der Polizist, als er bemerkte, dass Pan sich nicht regte. Maßlos überfordert mit der Situation, ließ er sich auf die Knie fallen und sah entgeistert in die Visiere der Polizisten, wo er in sein eigenes verzerrtes Spiegelbild blickte.
»Die Hände hinter den Kopf!«, wiederholte der Polizist ruhig, aber bestimmend. Langsam verschränkte Pan seine Hände hinter dem Kopf und sah sich einer aussichtslosen Situation gegenüber. Jetzt bereute er es, sich so viel Zeit gelassen zu haben. Er hätte direkt nach dem Aufstehen verschwinden müssen.
Und was nun?
Gejagt
Pan zitterte vor lauter Angst, während sich die Polizisten ihm näherten.
Renn weg!, befahlen ihm seine Gedanken, das kann ich nicht tun, warnten ihn die Selbigen.
»Aufstehen und umdrehen!«, befahl der Beamte, nahm den Lauf seiner Waffe herunter und holte die elektrischen Fuß- und Handfesseln hervor.
Jetzt oder nie, sagte Pan sich und stieß den Polizisten um, der ihm am nächsten stand. Er benötigte all seine Kraft und beide Hände, doch der Polizist rechnete nicht mit dieser Aktion und stolperte rückwärts. Da der breitgebaute Mann zwar ins Straucheln geriet, jedoch nicht hinfiel, versperrte er seinen Kollegen die Sicht auf Pan. Dieser stürmte den Flur entlang und durch die offene Tür nach draußen.
»Haltet ihn auf!«, schrie der Ausgespielte wütend.
Vor der Wohnzelle betätigte Pan den Touchscreen zu seiner Rechten. Augenblicklich war die Tür verschlossen. Er rannte nach links den Hausflur entlang. Sein Weg zur Arbeit hatte ihn stets nach rechts geführt. Es hatte für ihn nie einen Grund gegeben, aus dem er nach links hätte abbiegen müssen. Der Weg zur Arbeit hätte ihn zuerst zu einem Fahrstuhl und dann zu einem Hangar geführt.
Der Hangar war eine Landeplattform im Zentrum eines jeden Wohnsektors. Deren Bewohner sammelten sich jeden Morgen am Hangar und stiegen in eines der Schiffe, welches sie zum jeweiligen Arbeitssektor brachte.
Pan fragte sich, ob seine Wahl nach links zu gehen, wirklich die Richtige gewesen war. Vielleicht ist das eine Sackgasse? Beiderseits passierte er verschlossene Türen, die zu den zahllosen Wohnzellen auf dieser Etage führten. Wie in einem Bienenstock leben die Arbeiter dicht auf dicht. Vom Erdgeschoss bis in schwindelerregende Höhen von sechshundert Metern. Pan lebte im Wohnsektor 4 und arbeitete im Arbeitssektor 9. Sektor 4 beinhaltete ausschließlich Wohnhäuser für Arbeiter. Es gab noch andere solcher Areale, doch mehr wusste Pan nicht, über den Ort, an dem er lebte. Arbeitssektor 9 gehörte mit zu den härtesten Umfeldern, und Arbeiter aus diesem Sektor genossen kein hohes Ansehen. Pan musste körperliche Arbeit verrichten und diese Tatsache hatte ihm soeben die Haut gerettet. Nur so hatte er den gepanzerten Polizisten überwältigen und die Flucht ergreifen können.
Vielleicht hatte er mit dieser Entscheidung auch seinen schlimmsten Fehler begangen. Er war seinen Gedanken gefolgt und hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen. In beidem war er mehr als unerfahren. Und genau diese Unerfahrenheit hatte ihn zu unüberlegten Handlungen getrieben. Die Entscheidung nach links zu gehen, hatte er hingegen nicht unüberlegt getroffen. Er vermutete, dass damit gerechnet wurde, dass er rechtsherum fliehen würde. Wohin er gerannt war, hatten die Beamten glücklicherweise nicht mitbekommen können. Allerdings war das seine allererste Flucht und Pan befand sich auf unbekanntem Terrain. Der Flur kam ihm unendlich lang vor. Zwischendurch dachte er sogar daran, wieder umzudrehen, um doch zum Fahrstuhl zu gelangen. Er musste das Wohnhaus umgehend verlassen, wenn er nicht gefasst werden wollte.
Schließlich, vollkommen außer Atem, erreichte Pan das Ende des Ganges. Erleichtert stellte er fest, dass dieser ebenfalls an einem Fahrstuhl endete. Er konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob es sich sogar um ein und denselben handelte. Im Fahrstuhl war niemand, genau wie auf dem menschenleeren Flur. Alle Bewohner waren bereits auf dem Weg zur Arbeit und von den Polizisten fehlte jede Spur. Der Täuschungsversuch schien geglückt zu sein und die Beamten einen anderen Weg genommen zu haben.
Der Aufzug raste die Stockwerke bis zum Plateau des Hangars hinab. Alle Hauseingänge öffneten sich zu diesem Platz, um einen kurzen Arbeitsweg zu gewährleisten. Pan wohnte im vorletzten Stockwerk des Hochhauses. In jedem dieser Wohnhäuser fanden mehrere Tausend Bewohner Platz und jeder Wohnsektor bestand aus Hunderten Wolkenkratzern.
Auf dem Plateau herrschte großes Gedränge. Hier eilten wie jeden Morgen viele Menschen umher. Pan traf über eine halbe Stunde später als sonst hier ein. Doch was das zu bedeuten hatte, sollte er erst noch herausfinden.
Zuvor versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und sich einen Plan zurechtzulegen. Hinter dem Zugang zum Fahrstuhl, in einer dunkeln Ecke, ging er in Deckung. Dort wollte er abwarten und herausfinden, ob die Polizisten seine Verfolgung aufgenommen hatten. Erst wenn er sich sicher sein konnte, wollte er sein Versteck wieder verlassen. Er hatte jedoch keine Idee, wohin er fliehen sollte. Er wusste ja noch nicht einmal, wovor und warum er eigentlich floh. Etwas in seinem Inneren hatte ihn dazu getrieben loszurennen. Es war wie eine unsichtbare Macht – stark und unscheinbar zu gleich. Leicht hätte er seine Deckung aufgeben und sich stellen können. Immerhin zwang ihn niemand dazu, die Flucht fortzusetzen. Niemand, aber etwas.
Pan hatte begriffen, dass er einen unbedeutenden Teil von etwas zu sehen bekommen hatte, das unfassbar groß und geheimnisvoll war. Davon wollte er noch mehr sehen, und dazu musste er fliehen.
Vom Hangar aus war ihm nur einen Weg bekannt, der ihn von hier wegbringen würde. Und weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist und Pan nun mal ein Mensch war, versuchte er den Wohnortsektor auf dem einzig ihm bekannten Weg zu verlassen.
Nach einigen Minuten kroch er aus seiner Deckung hervor. Das Plateau lag inmitten der eintönigen Skyline aus Hochhäusern, deren Fensterscheiben golden schimmerten.
Ganz gleich, in welche Richtung er sah, das Meer aus Hochhäusern erstreckte sich in alle Himmelsrichtungen und so weit, wie sein Blick reichte. Zwischen den Häuserschluchten herrschte ein reger Luftverkehr, genau wie über dem Plateau. An den Terminals tummelten sich startende und landende Schiffe, Passagiere strömten in großen Gruppen von einer Seite des Hangarplateaus zur anderen.
Zielsicher steuerte er auf den Bereich zu, an dem das Sektorschiff anlegte, das zum Arbeitssektor 9 flog. Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen. Er hätte zwar in ein anderes Schiff steigen können, aber sich in einem fremden Arbeitssektor blicken zu lassen, das wagte er nicht. Zu leicht würde er auffallen und höchstwahrscheinlich sogar gefangen genommen werden. Sein eigener Arbeitssektor war ihm vertraut und vielleicht gab es eine Möglichkeit, von dort zu entkommen. Er könnte mit einem Lastenschiff die Flucht zu einem anderen Planeten