Hanna wurde umgehend benachrichtigt und saß eine knappe Stunde später neben Bernd im Krankenzimmer.
»Mein Gott, Bernd, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst immer, ja immerzu, an die Sicherheitsmaßnahmen denken.«
»Es ist doch alles gut gegangen. Nur eine heftige Prellung im Rücken und eine Muskelzerrung.«
»Ja, aber es hätte dich auf dem Kopf treffen können!« Hanna seufzte und rollte mit den Augen.
Am selben Tag war Bernd wieder zu Hause. Da er seinen Job als Dachdecker nicht sofort wieder aufnehmen konnte, erledigte er Dinge, die er sonst immer aufschob, wie zum Beispiel: den Flachbildfernseher an der Wand installieren, kaputte Birnen wechseln, im Geräteschuppen Ordnung schaffen. Das alles verlangte Körperkraft, weshalb ihm Hanna ständig mit Vorwürfen in den Ohren lag. Gerne hätte er sich während seiner Rekonvaleszenz mit Eberhard über dessen Studien unterhalten, aber Eberhard war die Woche über an der Fakultät.
Manchmal fühlte sich Bernd nach verrichteter Arbeit etwas schwach auf den Beinen, und es war ihm leicht übel. Etwas beunruhigte ihn dabei die Tatsache, dass er drei Bypässe hatte und ständig Tabletten nehmen musste. Wirklich darüber nachdenken wollte er nicht.
Bald war sein Können auf dem Dach wieder gefragt, und statt zu jammern oder auf der faulen Haut zu liegen, machte er sich am zweiten Montag im September dieses Jahres wieder auf den Weg zur Firma, für die er als Dachdecker arbeitete. Er gab Hanna zum Abschied einen Kuss, steckte die Zeitung ein, die er während der Kaffeepause in der Firma lesen wollte, und stieg ins Auto. Hanna winkte ihm vom Küchenfenster aus und er winkte zurück.
Er fuhr unsicher, es ging ihm nicht gut. Nach wenigen Minuten Fahrt schon fühlte er sich so schlecht, dass er rechts ranfuhr und den Wagen zum Stehen brachte. Im letzten Moment. Er sackte zur Seite und es wurde dunkel. Oft hatte er sich gewünscht, so schnell einzuschlafen. Aber nie unter diesen Umständen.
Das Auto störte den fließenden Verkehr. Er hatte es ja nur eben rechts rangefahren. Da das Hupen allerseits nichts zu bewirken schien, fuhr ein anderer Wagen rechts ran, ein Mann stieg aus und klopfte an die Scheibe. Dann erst sah er nach innen.
Bernd lag leicht verkrümmt. Wenig später schon war der Notarzt da, prüfte den Zustand des erschlafften Körpers, hob ihn mithilfe seines Sanitäters auf die Trage und sah schließlich mit bitterer Miene die Umstehenden an. Was er an Papieren in Bernds Auto fand, nahm er mit. Er sagte nichts weiter, telefonierte und fuhr mit Blaulicht weg.
Eine knappe Stunde später stand Hanna im Krankenhaus vor ihrem toten Mann und verstand die Welt nicht mehr.
»Was um Gottes Willen ist passiert? Er hatte doch nichts. Als er ging, war er wie immer.« Unentwegt schüttelte sie den Kopf. Tränen verwischten ihre Wimperntusche.
Eberhard, der mittlerweile eingetroffen war, legte den Arm um ihre Schulter. Auch er war fassungslos und blickte mit leeren Augen auf seinen toten Vater. Er konnte es nicht verstehen, aber es war nun mal so. Damit musste er fertig werden und lange schon hatte er gedacht, dass er den Vater oder die Mutter in noch jungen Jahren verlieren könnte, denn seine Eltern waren alt. Nur hatte er nicht so plötzlich damit gerechnet.
»Nach Angaben Ihres Hausarztes ist Ihr Mann vor Kurzem gestürzt«, bemerkte der Stationsarzt, der Hanna und Eberhard in sein Sprechzimmer gebeten hatte.
»Ja, aber das war nichts Besonderes. Nur Prellungen. Doktor Schleich hat ihm Schmerzmittel und etwas zum Einreiben gegeben und gesagt, er solle wiederkommen, wenn es nicht besser wird«, erklärte Hanna.
»Röntgenaufnahmen wurden demnach nicht gemacht«, schlussfolgerte der Doktor.
»Wieso auch? Wir waren heilfroh, dass nichts gebrochen war. Er stand nach dem Sturz gleich auf. So ein gelenkiger Mann, dachte ich.«
»Ja, manchmal sollte man solche Stürze nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Was meinen Sie?« Eberhard stellte die Frage mit hochgezogen Augenbrauen.
Man gehe von einer durch den Sturz hervorgerufenen Verletzung der Bypässe aus, wurde ihm daraufhin erklärt. Es sei zu einem Herzstillstand gekommen, da das Herz nicht mehr ausreichend versorgt worden war.
Nach der Beerdigung, die einen Teil des angesparten Geldes verschlungen hatte, mussten die Finanzen geklärt werden. Hannas Gehalt und die sechzig Prozent von Bernds Rente reichten nicht aus, um die Unkosten, die Abzahlung des Hauses, Eberhards Studium und Hannas Lebensunterhalt zu decken.
Eberhard schlug vor, arbeiten zu gehen, was Hanna mit einem Aufschrei ablehnte. Das sei keinesfalls in Bernds Sinne. Sie hätten sich krummgelegt, damit der Sohn eben nicht mühselig das Geld zusammenkratzen müsse, sondern einen angesehenen Beruf erlerne, der ihm alle Türen öffne und ihm ermögliche, eine anständige Frau zu finden und eines Tages selbst ein Haus zu kaufen.
Hannas nächster Gang galt der Immobilienabteilung ihrer Bank. Sie habe gemeinsam mit ihrem Sohn beschlossen, das Haus zu verkaufen und das Geld so anzulegen, dass zusammen mit ihrem Gehalt die monatlichen Unkosten gedeckt seien.
»Es ist ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, das Haus zu verkaufen. Zwar sind die Zinsen niedrig, und das bewegt die Menschen, Kredite aufzunehmen und Immobilien zu kaufen, doch Ihr Objekt ist nicht besonders begehrt.«
»Was soll das heißen? Vor einigen Jahren, als wir kauften, wurde uns das Objekt als potenzielle Anlage angeboten.«
Der Banker machte unmissverständlich klar, dass sich die Lage seitdem grundlegend verändert habe. Durch den Ausbau der Stadtbahn liege das Haus mittlerweile in unmittelbarer Nähe der Schienen und ein geruhsamer Nachmittag im Garten sei nicht mehr möglich. Gleichzeitig sei der hübsche Ausblick nach Westen zum Wald und den Wiesen seit dem Bau eines Mehrfamilienhauses beeinträchtigt. Kurz und gut: Das Haus habe zum gegebenen Zeitpunkt nicht einmal den Wert, der dem einstigen Kaufpreis entspräche. Frau Pross möge doch noch ein wenig zuwarten. Irgendwann würden sich die Umstände auch wieder ändern.
»Aber nur zum Schlechten, Herr Bücker! In einem Jahr stehen noch mehr Häuser im Westen und bis dahin hat die Stadt eine zweite Schiene installieren lassen und es herrscht reger Verkehr auf den Gleisen.«
»Dann allerdings zählt ihr Häuschen zur Stadt und befindet sich nicht mehr wie jetzt am Stadtrand. Und ein Stadthaus verkauft sich viel besser.«
Nach einigem Hin und Her seufzte Hanna: »Ich habe keine andere Wahl.«
Herr Bücker presste die Lippen zusammen und nickte schließlich. Er werde ein Exposé des Hauses anfertigen lassen und es ins Internet stellen. Außerdem werde es täglich in der Kreiszeitung erscheinen. Man schrieb das Jahr 2005, Eberhard war 22. Er hatte das Physikum abgelegt und befand sich im vierten Semester. Acht Semester lagen noch vor ihm, das bedeutete für ihn vier Jahre Studium und für Hanna vier weitere Jahre, in denen sie das Studium ihres Sohnes unterstützen würde.
Ein Jahr später, im Jahre 2006, war das Haus noch immer nicht verkauft. Immer wieder musste Hanna Interessenten durchs Haus schleusen, was ihr sehr unangenehm war.
Im Jahr 2008 waren die 30 000 Euro für Eberhards Studium aufgebraucht und kein Käufer war in Sicht. Was Hanna am meisten quälte, war das Befinden ihres Sohnes. Mit jedem Jahr sank seine Motivation. Er verlor das Interesse, ging nicht mehr zu den Vorlesungen und erschien nur noch sporadisch im Krankenhaus.
»Mein Gott, Eberhard, was ist los mit dir?«
»Ich weiß es nicht, Mutter. Es ist, als hätte Vater all meine Vorstellungen und Hoffnungen mit sich genommen. Ja, und die Lust am Medizinstudium ist auch mit ihm gegangen.«
»Das kann nicht sein, Eberhard!«, Hanna griff in ihr Haar und zerrte nervös daran. »Du warst selbst ganz begeistert von dieser Wahl.«
»Ja, solange Vater gelebt hat, war die Wahl gut. Doch nun hat sie keinen Wert mehr.«
»Wie, sie hat keinen Wert? Wolltest du denn etwas anderes studieren?«
Atemlos wartete Hanna auf die Antwort. Nur einmal hatte sie sich die Frage gestellt, ob Eberhard