Für Anita zieht sich der Weg endlos hin. Sie vertraut zwar auf die gute Erziehung ihres Pferdes, weiß aber auch, dass sie ihrem Tier hier einiges abverlangt. Der Geruch des frischen Grases, die deutlich spürbare Anspannung der Menschen, das Klicken der Fotoapparate, das alles belastet die Nerven ihrer sonst recht ruhigen Stute sichtbar. Als sie das Koppeltor passiert, atmet Anita hörbar auf. Sie dreht ihr Pferd wieder Richtung Hof, steckt Farina ein Leckerli zu und wartet.
Karin hat mit ihrer Luna schon den halben Weg hinter sich. Im Gegensatz zu Farina scheint Luna die Aufmerksamkeit der Menschen geradezu zu genießen. Sie trägt ihren Hals stolz gewölbt, ihre Trabschritte sind langsam und gesetzt mit leicht abgekippter Hinterhand, damit die Hinterbeine tief unter den Körper greifen können. Dieses Pferd trabt nicht – es schwebt! Frei und ungezwungen, taktrein und ohne eine ersichtliche Anspannung – wunderschön!
Karin lacht Anita entgegen. „Sie ist ein ganz schöner Angeber, nicht wahr?“ Auch sie dreht ihr Pferd Richtung Koppelausgang. „Bist du fertig, kann ich loslassen?“
Auf ein Nicken Anitas lassen beide ihre Pferde zeitgleich los und bringen mit ein paar schnellen Schritten Abstand zwischen sich und die Tiere. Und das ist auch gut so. Kaum sind sich die beiden Stuten ihrer Freiheit bewusst, schwingen sie auf der Hinterhand herum und schießen wild buckelnd davon.
„Wie alt, sagtest du, ist dein Pferd?“ Karin schaut fassungslos hinter Farina her. Anita lacht.
„Tja, Alter schützt vor Torheit nicht – selbst nicht bei Pferden!“ Farina liegt inzwischen auf dem Rücken und strampelt mit allen Vieren in der Luft. „Dreißig ist die Dame inzwischen und kein bisschen müde. Aber schau’n wir, dass wir hier wegkommen. Schneewittchen und Gipsy kommen als nächste – und denen möchte ich nicht im Weg stehen!“
Anita zieht Karin mit sich. Beide ducken sich durch den Koppelzaun und stellen sich auf die angrenzende Weide. Farina und Luna haben das Toben und Wälzen eingestellt und widmen sich dem hohen Gras. Selbst die Unruhe oben auf dem Hof kann sie nicht ablenken. Karin zückt ihren Fotoapparat. Oben auf dem Hof klinken Sandra und Eugen die Stricke aus den Halftern der nächsten beiden Pferde. Schneewittchen, die Haflingerstute stutzt nur kurz, dann schießt sie den Weideweg hinunter, wild nach ihren Kollegen wiehernd. Bei Gipsy siegt dagegen die Verfressenheit gegenüber dem Herdendrang. ‚Wieso soweit laufen, liegt das Gute doch so nah’, scheint sie zu denken und versenkt ihre Nase sofort in das duftende Gras auf dem Wiesenweg.
Sandra lacht, als Eugen frustriert durchatmet. „Was hast du nur, du musst sie doch am besten verstehen können.“ Sandra deutet auf die dralle Tinker-Stute. „Sie weiß halt, was Hungern bedeutet und was sie einmal im Bauch hat, kann ihr keiner mehr nehmen!“
„Ist trotzdem frustrierend, so langsam sollte sie doch wissen, dass sie es bei mir gut hat! Auf jetzt!“ Eugen lässt den Halfterstrick durch die Luft wirbeln. „Mach, dass du zu deinen Freunden kommst. Die anderen wollen auch noch raus.“ Die Luftgeräusche des Strickes scheinen Gipsy aufzuwecken. Sie keilt einmal in Richtung der Menschen und galoppiert dann zu ihrer kleinen Herde.
Anita schlüpft durch den Koppelzaun und verschließt die Weide hinter dem Pferd. Die vier Stuten haben sich schnell beruhigt und grasen jetzt um die Wette. Karin hilft Anita das Absperrband so zu spannen, dass die nächste Pferdegruppe auf die benachbarte Weide geleitet wird. Sie öffnet noch schnell das Koppeltor und schlüpft dann unter dem Absperrband hindurch auf die vor Pferden sichere Seite.
„Wie viele kommen insgesamt heute in der Gruppe raus. Weiß du das?“
„Ich meine, Sandra hätte etwas von vierundzwanzig gesagt. Genau weiß ich es nicht. Warten wir es mal ab.“
„Bleibst du hinterher auch noch zum Kaffeeklatsch und hilfst die Pferde wieder rein zu holen? Wobei, wieso müssen die nach zwei Stunden schon wieder rein? Meine Luna habe ich die letzten Wochen schon bis zu zwei Stunden an der Hand grasen lassen!“ Karin greift sich einen Grashalm und beginnt, darauf herumzukauen.
„Du bist da ja auch richtig vorbildlich. Aber überleg mal, wie viele von den anderen du beim Grasen getroffen hast: Zehn, wenn’s hochkommt! Die meisten haben entweder keine Lust oder keine Zeit, so lange mit ihrem Pferd an der Hand zu laufen – zusätzlich zum Reiten. Und für diese Pferde sind zwei Stunden für den Anfang schon ziemlich lang. Futterumstellung sollte schließlich immer langsam erfolgen!“
Karin nickt. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen, jeden Tag nur zum Reiten herzukommen. Für mich ist Luna mein Ein und Alles. Naja, vielleicht ändert sich das, wenn ich selbst Familie habe.“
Es dauert nicht lang, dann grasen alle Pferde zufrieden auf der Koppel. Die Fotografen packen begeistert ihre Kameras ein und die Pferdebesitzer treffen sich zum Kaffeetrinken auf dem großen Vorplatz. Wie jedes Jahr wird sich durch Kuchen, Torte und die eine oder andere Geschichte die Zeit vertrieben, bis die Pferde wieder hereingeholt werden müssen.
Schnell sind Kaffee und Kuchen verteilt. Vom Tisch hat man einen guten Blick auf die Pferdeherde weiter unten im Tal. „Schaut mal“, Sandra, die Eigentümerin des Hofes, nickt mit dem Kopf in Richtung der Wallache. „Firlefanz ist heute wieder besonders gut drauf!“
Es stimmt: Ein kleiner Fuchs mischt gerade mit wilden Bocksprüngen die Herde auf.
„Wie alt ist dein Pferd eigentlich, Mareike?“
„Firlefanz ist jetzt siebzehn! Und seit sieben Jahren gehört er mir.“ Zufrieden beißt Mareike in ihren Napfkuchen.
„Schickes Tierchen. Wie bist du denn an den gekommen?“ Martina beugt sich neugierig vor, um das Toben der Pferde besser beobachten zu können.
„Ja, erzähl, wie kommt man zu einem Pferd, das so gut zu einem passt. Wenn man euch beide zusammen sieht, das ist einfach genial. Ihr seid ein tolles Team!“ Lotte, die älteste Reiterin am Stall, nickt bestätigend.
„Seid ihr sicher, dass ihr wissen wollt, wie ich zu meinem kleinen Roten gekommen bin?“ Mareike blickt zweifelnd in die Runde. „Der Anfang ist so gar nicht lustig.“
Die anderen schauen sie nur erwartungsvoll an. Mareike seufzt. Ihre Augen gleiten zu dem Fuchs auf der Koppel.
„Ich kannte Firlefanz schon eine ganze Zeit, sozusagen ‚aus der Ferne‘ “, beginnt sie.
Firlefanz
„Mareike bist du endlich so weit? Wir müssen los!“ Heike schloss die Verriegelungen an der Transporterklappe. Ich suchte noch schnell die letzten Sachen zusammen: Kopfnummer, Fellhandschuh fürs Blankpolieren und ein paar Zuckerstücke als Belohnung. Ein kurzer prüfender Blick durch die Sattelkammer – nein, nichts vergessen. Als ‚TT‘ = Turniertrottel, war ich für die Ausrüstung von ‚Topgun‘ verantwortlich. ‚Turniertrottel‘ klang so herrlich abwertend! Dabei machte es mir Spaß, Heike auf ihre Turniere zu begleiten. Topgun war Heikes Pferd und ich seit inzwischen sieben Jahren ihre Reitbeteiligung.
Topgun, dieser herrliche einzigartige Hannoveraner. Ein Schimmel, erst grau jetzt fast schneeweiß, von 14 Jahren. Mit seinen 173cm Stockmaß eigentlich viel zu groß für mich. Aber irgendwie hatten wir uns immer arrangiert. Er war ein Herr, wie er im Buche steht: keinerlei Unarten und immer bereit zur Arbeit. In den sieben Jahren, seit ich ihn kannte, war er nicht einmal ernstlich krank gewesen.
Schnell schlüpfte ich zu Heike ins Auto. „Denn man los. Immerhin brauchen wir mindestens eine Stunde.“ Heike fuhr vorsichtig an.
Heike – sie hatte Topgun fünfjährig als Freizeitpferd erworben. Ein paar kleine Turniere vielleicht mal dann und wann waren geplant gewesen. Und dann hatte sich Topgun als ‚Schleifengarant‘ entpuppt. Dressur wie Springen: Beides lag ihm und inzwischen ritten Heike