Man könnte meinen, Michel hätte eine Verbindung zwischen seinem Freunde Bjelinski und einer seiner Schwestern begünstigen müssen, gerade im Gegensatz zu seinen Eltern; das war aber nicht der Fall. In Märchen erscheinen zuweilen gewalttätige königliche Väter, die ihre Töchter so frevelhaft lieben, daß sie sie keinem Manne geben wollen. Etwas von diesem herrischen Gefühl war in Bakunins Liebe zu seinen Schwestern. Warwara hatte zu einer Zeit, als Michael noch jünger und sein Einfluß weniger entscheidend war, geheiratet, aber sie hörte bald auf, ihren Mann zu lieben. Obwohl er seiner Frau treu anhänglich war, deren Selbstquälerei und religiöse Skrupel ihm gewiß das Leben mit ihr nicht leicht machten, war es für Michel ausgemacht, daß seine Schwester von diesem tieferstehenden Menschen befreit werden müsse. Die lichte Atmosphäre von Kultur, die das Bakuninsche Haus durchdrang, erfüllte augenscheinlich Warwaras Mann, der nicht in einem solchen aufgewachsen sein mochte, mit Bewunderung; er betrachtete sie wohl als ein übergeordnetes Wesen, das an sich zu fesseln er schon allerlei Opfer bringen müsse. Warwara konnte sich im täglichen Umgange mit einem Manne, der ihr nichts zuleide getan hatte und der durch sie litt, nicht dem Mitgefühl für ihn entziehen und auch wohl nicht dem Bewusstsein, ihm gegenüber im Unrecht zu sein; Michael kam dergleichen nicht in den Sinn. Eine Verpflichtung seiner Schwester, in der einmal eingegangenen Ehe auszuharren und sie so gut wie möglich zu gestalten, anerkannte er nicht; ihm galt als höhere Pflicht, sich dem erniedrigenden Einfluß eines gewöhnlichen Mannes zu entziehen. Ihm genügte als Grund schon, daß sie ihn nicht liebe; aber hätte sie ihn geliebt, würde er noch mehr darauf gedrungen haben, daß sie ihn verließe. Warwara ging nicht so weit, machte nur das eine zur Bedingung, daß ihr Mann ihre Religion nicht antaste, von der er offenbar nichts verstand und nichts verstehen wollte; man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß in diesem Zwist der nachgiebige und versöhnliche Mann religiöser war als die auf diesem Punkte so heikle Warwara. Michel anderseits war nichts so verhaßt als das übliche Versumpfen im gedankenlosen Wohlleben; er erregte jene Stürme, damit lieber etwas zerbreche, als daß Stagnation eintrete; warf er doch sogar Bjelinski gelegentlich vor, er laufe Gefahr, ein Bonvivant ohne Ideale zu werden. Dazu kam nun aber seine brüderliche Eifersucht. Kaum bildete sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Schwestern und Bjelinski, als sein Benehmen ungleich, unerklärlich beleidigend gegen den Freund wurde, der in seinem Vaterhause zu Gaste war; erst als Tatjana, der er besonders nahestand, ihm erwiderte, daß sie weder zu Bjelinski noch zu einem anderen Manne eine Neigung habe, beruhigte er sich wieder. Übrigens erwiderte Alexandra die Liebe Bjelinskis nicht, und dieser heiratete später eine andere, ohne daß er je den Zauber hätte vergessen können, den die Schwestern in Prjamuchino ausübten. Als Bjelinski später Michel sein kränkendes Betragen vorhielt, gestand dieser alles zu und erklärte es durch seine Eifersucht mit so viel Freimut und Herzlichkeit, daß er den Zürnenden vollständig entwaffnete.
Einzig gegen die Verlobung der ältesten Schwester Ljubow mit Stankjewitsch hatte er nichts einzuwenden; vielleicht weil er Stankjewitsch so überaus hochstellte, vielleicht weil Ljubow ihm weniger nah verbunden war als die anderen, vielleicht aber auch, weil Stankjewitsch bald erkannte, daß sein Gefühl nicht stark genug war, um eine Heirat darauf zu gründen. Die Süße und Lieblichkeit der armen Ljubow hatte auf die Dauer nichts Anregendes für ihn; es mag sein, daß sie ihm zu ähnlich war: Sie war es ja jedenfalls darin, daß sie beide zu frühem Tode an der Schwindsucht bestimmt waren. Er brachte den Mut nicht auf, das Herz des zarten Mädchens zu zerreißen, und half sich dadurch, daß er ins Ausland reiste und durch Briefe mit ihr verbunden blieb, es der Zukunft und dem Zufall überlassend, die Verwickelung zu lösen. Es geschah durch ihren Tod; sie starb, ohne erfahren zu haben, daß der Geliebte sich längst von ihr gelöst hatte.
Die Flucht des Freundes Stankjewitsch ins Ausland wurde für Michel ein lockendes Vorbild; er hätte sich ihm am liebsten sofort angeschlossen, wenn er die Mittel dazu aufgebracht hätte, die sein Vater ihm nicht geben zu können erklärte. Mit Mühe wurde Warwara die Reise ermöglicht, während welcher sie sich besinnen sollte, ob sie die Ehe wieder aufnehmen oder endgültig lösen wollte. In Italien traf sie mit Stankjewitsch zusammen, der inzwischen erkrankt war, und pflegte ihn bis zu seinem Tode. Zwischen dem Sterbenden und ihr flammte eine Liebe auf, von der es ungewiß bleibt, ob sie sich schon früher vorbereitet und das Verhältnis mit Ljubow gestört hatte.
Für jeden Menschen gibt es viele Möglichkeiten, aber nur einen Weg, der zu dem ihm bestimmten Ziele führt. Bei Michel ist es auffallend, mit welcher Gewalt es ihn ins Ausland drängte, obwohl sein Ziel ihm noch ganz undeutlich war. Schon als Kind hatte er von Abenteuern in fernen Ländern geträumt, worin die Reisebeschreibungen, die der Vater den Kindern vorzulesen pflegte, ihn bestärkten. Wenn er sich Zukunftsbilder ausmalte, so spielten sie weit, weit von Russland in unbekannter Fremde. Der nomadische Zug im Wesen der Russen mochte dabei mitwirken; aber außerdem noch ein anderes: Seine hochgezüchtete aristokratische Eigenart bedurfte der Begegnung mit einer fremden Welt. Trotz des Verschmolzenseins mit seinen Schwestern, trotz des innigen Zusammenhanges mit seinem Vater, trotz aller Widerstände hielt er unentwegt an dem Plane fest, nach Deutschland zu reisen. Anfänglich glaubte er, die Mittel dazu sich durch journalistische Tätigkeit verdienen zu können; aber er mußte bald einsehen, daß er bei seiner Unfähigkeit zu regelmäßiger, einträglicher Arbeit auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen war. Obwohl er sich mit seinem Vater wieder gut stand, mißtraute derselbe doch seinen Zukunftsplänen. Er glaubte fordern zu können, nachdem Michel sowohl die Soldaten- wie die Beamtenlaufbahn ausgeschlagen hatte, daß er, seinem Beispiel folgend, sich der Bewirtschaftung des Gutes widme, was um so wünschenswerter war, als er selbst durch seine Blindheit und sein Alter gehemmt war. Aber auch davon wollte Michel nichts wissen: Professor in Moskau zu werden, erklärte er für seinen Wunsch und seine Bestimmung. In langen, dringenden Briefen schilderte er dem Vater, wie die Leidenschaft nach Erkenntnis ihn ganz erfülle und beherrsche, wie es ihm unmöglich sei, mit diesem Drang in der Brust sich einer anderen Aufgabe hinzugeben. Den Gedanken, Professor zu werden, hatte zweifelsohne Fichtes Schrift über die Bestimmung des Gelehrten in ihm geweckt oder genährt; an einen zunftgerechten Professor dachte er nicht, ihm schwebte es vor, Führer einer strebenden Jugend zu werden und sie für den Dienst der Wahrheit zu begeistern, die er sie lehren würde. Zu dem Zweck müsse er sich selbst noch ausbilden, so sagte er, und dies konnte nach dem Gange seiner bisherigen Studien natürlich nur in Berlin geschehen. Dem zärtlich bittenden Ungestüm des Sohnes war nicht zu widerstehen: Grundsätzlich wenigstens gaben die Eltern nach, nur daß sie die zum Aufenthalt im Ausland erforderliche Summe nicht bereit zu haben erklärten und den Ungeduldigen zunächst auf die Zukunft vertrösteten. Vielleicht war dies nur ein Ausweg, nicht nein zu sagen und doch die Reise unmöglich zu machen; allein der Zufall fügte es, daß Michel einen neuen Freund gewann, der ihm für den Fall, daß die väterliche Unterstützung ausbliebe, seine Hilfe in Aussicht stellte.
Der Einfluß deutscher Romantik auf Bakunin
Dieser Freund, der eine Rolle in Michels Leben spielen sollte, hieß Alexander Herzen. Der reiche Fabrikbesitzer Jakowlew hatte auf seinen Reisen in Deutschland eine junge Schwäbin, Luise Haag, kennengelernt und nach Russland entführt, wo sie ihm einen Sohn schenkte, den der Vater, weil es ein Kind seines Herzens sei, Alexander Herzen nannte. Jakowlew, der seine Abkunft auf den sagenhaften slawischen Fürsten Weidewut zurückführte, wies viele Züge auf, die für den russischen Adel charakteristisch sind, der einerseits durch die unbedingte Herrschaft über die leibeigenen Bauern zu maßloser Selbstüberhebung und Herrschsucht neigte, anderseits, dem Zaren gegenüber Sklave und zu einer freien, würdigen Tätigkeit nicht befugt, entweder kriechend und ängstlich am Hofe lebte oder sich in einer barbarischen Einsamkeit vergrub. Zu den letzteren gehörte Jakowlew. Er hatte sich dem deutschen Bürgermädchen gegenüber von seinem Gefühl hinreißen lassen, doch aber nicht so weit, daß er sie zu seiner rechtmäßigen Frau gemacht hätte. Schon dieser Umstand und die Kälte und Menschenverachtung des Mannes machten ein geselliges Leben im Hause unmöglich. Die Frau lebte ziemlich abseits in ihrer zweideutigen Stellung und litt oft unter der ungebändigten Heftigkeit und Launenhaftigkeit Jakowlews. Neben Alexander wuchs noch der Sohn einer anderen Frau auf, vermutlich einer Untergebenen,