In diesem Moment lief drinnen das Hochzeitsfest von Erika Knie-Stemmberger auf seinen Höhepunkt zu. Das Streichquartett spielte einen Tusch, und Arthurs Cousin Heinrich stellte sich auf die Bühne, um eine Rede zu halten. Wortreich gratulierte er seiner Cousine und ihrem Angetrauten.
Während Heinrich sich in Selbstdarstellung übte, strebte Arthur der Bühne zu. Er hatte getrunken, das war schwerlich zu übersehen. Und das Trinken hatte ihn versöhnlich gestimmt. In seinem Rausch hielt er es für seine Pflicht, ebenfalls einige Worte an seine Halbschwester und ihren Ehemann zu richten. Vor der Bühne zweigte er ab und näherte sich dem Redner von hinten. Heinrich hatte seine Rede beendet und wollte eben den Tontechniker herbeirufen, da stand Arthur auch schon hinter ihm und griff nach dem Mikrofon. Heinrich stutzte und wollte noch etwas sagen, doch Arthur drängte ihn von der Bühne. Heinrich stand unschlüssig und überlegte, ob er Arthur nicht besser das Mikro entwenden sollte, doch dieser behielt es fest in der Hand. Heinrich, noch beeindruckt von der Schlägerei, blieb stehen, wo er war, und Arthur begann zu reden: „Sehr geehrte Festgäste, liebe Erika, liebe Kaa, lieber Reinhold, liebe Mutter. Danke Aldo, dass du dieses Fest möglich gemacht hast!“ Ein plötzliches Zucken durchfuhr Arthurs Körper, er drehte den Kopf ruckartig zur Seite und sein Mund verzerrte sich für einen flüchtigen Moment zu einer Grimasse. Er setzte fort: „Danke an das Streichquartett. AFFENGEIL! Ich bin dankbar, dass dieser Zwischenfall glimpflich ausgegangen ist. So ein Idiot! ☹☠†#ⅎⅎ!“ Wieder zuckte Arthur kurz zusammen. Gleich darauf entspannte er sich wieder. „Liebe Kaa, ich freue mich, und ich wünsche euch alles Gute, mögen eure Wünsche in Erfüllung gehen. So eine Ehe ist ja immer auch ein Wagnis. Das Leben hat so viele Überraschungen und Widrigkeiten für uns parat, auf die wir nicht immer vorbereitet sind. Und ich weiß, wovon ich spreche.“ In der Zwischenzeit hatte sich Sophie Knie einen Weg durch die Gäste gebahnt und blickte Arthur fassungslos an. Arthur nahm ihren Blick auf und setzte erneut zum Reden an: „Liebe Mutter!“ Wieder durchfuhr ihn ein Zucken, und er konnte dem inneren Drang nicht widerstehen: „Liebe Frau #☹ʞ☠ⅎ, †¿#☠☠#!; Mutter ⅎ#ʞ☹☠, Pardon“, Kaa – ☹☠†#ⅎⅎ, Reinhold – ¿ⅎ#☠ⅎ – Pardon, ich kann nicht anders“, stammelte Arthur. Weiter kam er nicht, denn Heinrich war aus seiner Starre erwacht und rang ihm das Mikro aus der Hand. In der Zwischenzeit war auch der Tontechniker an seinem Schaltschrank angelangt und schaltete den Ton aus. Die restlichen unflätigen Schimpfwörter, die aus Arthurs Mund kamen, waren nun nicht mehr durch den Lautsprecher verstärkt.
II
Zweimal begraben
Steffi hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Der gestrige Streit steckte ihr noch in den Knochen.
Die Beziehung zu Dominic hatte sich vor Jahren irgendwie ergeben. Auch wenn er sich bei allen anderen wenig Mühe gab, bei Steffi hatte er sich immer von seiner besten Seite gezeigt. Natürlich war ihr die Kritik ihrer Familie und ihrer Freunde an Dominic aufgefallen, doch sie versuchte stets, sich bei der Einschätzung ihrer Mitmenschen von niemandem beeinflussen zu lassen. So hatte sie sich auch über Josef noch kein Urteil gebildet. Ja, er hatte sich bei der Hochzeit eindeutig danebenbenommen, das musste sie zugeben. Aber lustig war er! Und was hatte er schon groß getan? Etikette, Höflichkeitsfloskeln, die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der gutbürgerlichen Gesellschaft, all das war ihr schon immer auf die Nerven gegangen. Vielleicht war das auch ein wesentlicher Grund, warum sie mit Dominic zusammen war. Der scherte sich einen Dreck um diese Dinge.
Ihre Mutter wunderte sich sehr, als ihr Steffi am nächsten Morgen in der Küche begegnete. Margarethe und Max Rett waren erst spät am Abend von der Hochzeit zurückgekehrt und hatten nicht bemerkt, dass Steffi ihr Zimmer über Nacht wieder bezogen hatte. Die Beziehung zwischen Max und seiner Schwester Sophie war nicht gerade die beste. In der Familie Rett wurde Sophie Knie wegen ihrer aufgespritzten Lippen spöttisch Tante Botox genannt. Max hatte diesen Namen erfunden, als er einmal seine Schwester im Profil betrachtet hatte. Als jüngste Tochter nach drei Söhnen war Sophie das Zentrum der Aufmerksamkeit beider Eltern gewesen. Bereits in ihrer Kindheit musste alles nach ihrem Kopf gehen. Ihre erste Beziehung mit Didier de Montfalcon zerbrach, nachdem sie „ungewollt“ schwanger geworden war. Als Mitglied der Adelsfamilie Montfalcon wollte Didier keine Kinder mit einer Bürgerlichen, und das hatte er auch am Beginn ihrer Liaison klar zum Ausdruck gebracht. Er riet ihr, das Kind abtreiben zu lassen, doch Sophie hatte schon zu lange gezögert. Schließlich wollte sie Didier unter Druck setzen, doch da war sie an den Falschen geraten. Er teilte ihr kühl lächelnd mit, dass sie gerne die Gerichte bemühen könne, doch solle sie wissen, dass erstens ein länderübergreifendes Gerichtsverfahren seine Zeit brauchen würde und daher sehr kostspielig wäre, zweitens aber würde er alle Hebel in Bewegung setzen, um sich seiner Verantwortung zu entziehen. Sie könne davon ausgehen, dass der französische Hochadel noch immer einen bedeutenden Einfluss habe. Sophie ließ sich rechtlich beraten, sah aber dann ein, dass sie chancenlos war. Das einzige, was der jungen Sophie Rett nach ihrer Beziehung mit Didier blieb, war die Schande eines unehelichen Kindes. Der erste Versuch, über einen Mann den erwünschten sozialen Aufstieg zu schaffen, war somit gescheitert.
Was nun? Sie musste sich gehörig anstrengen, um sich den Industriellen Adolf Knie zu angeln, obwohl ihr überaus attraktives Aussehen zu ihren Gunsten sprach. Adolf war bedeutend älter als sie und alles andere als ein hübscher Mensch, dafür aber sehr vermögend und erfolgreich. In der Anfangszeit ihrer Beziehung verschwieg sie ihm die Existenz des kleinen Arthur. Erst nach und nach rückte sie mit der Wahrheit heraus, doch da war sie bereits ein zweites Mal schwanger. Adolf Knie war ein aufrichtiger und fairer Mann. Ihm gefiel die junge Sophie und er hatte Mitleid mit ihr. Er akzeptierte daher die Tatsache, dass sie einen unehelichen Sohn in die Beziehung mitbrachte und machte ihr auf Knien einen Antrag. Aber obwohl Aldo, wie er nach dem Krieg genannt wurde, Arthur gern hatte, stellte sich nie die Frage einer Adoption. Seit Sophie den Namen Knie trug, behandelte sie ihre Geschwister wie Untergebene.
***
Max Rett atmete erleichtert auf, als er hörte, dass sich Steffi von Dominic trennen wollte. Er hatte schon befürchtet, dass demnächst ein kleiner Kickboxerenkel das Licht der Welt erblicken würde. Um den guten Kontakt zu ihrer Tochter nicht zu gefährden, hatten die Eltern nie ein schlechtes Wort über Dominic verloren, obwohl sich Max stets heftig auf die Zunge beißen musste, um mit bissigen Bemerkungen hintanzuhalten, insbesondere, wenn Dominic begann, seine reaktionären Parolen vom Stapel zu lassen. Auch an jenem Morgen hielten sich Max und Margarethe zurück. Das zarte Pflänzchen der Hoffnung, dass diese unselige Beziehung ihr Ende finden sollte, wollten sie nicht durch irgendwelche Kommentare, die vielleicht ein Umdenken auslösen hätten können, gefährden. Steffi war erstaunlich gefasst. Es war, als ob in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden wäre. Mit einem Schlag war ihr klar, dass sie sieben Jahre ihres Lebens vergeudet hatte. Diesen Irrtum galt es nun zu korrigieren. Auf eine Konfrontation mit Dominic hatte sie keine Lust. Abgesehen davon wollte sie sich einer weiteren für sie inzwischen sinnlosen Debatte mit ihm nicht stellen. Ihr Entschluss stand fest, die Sache war zu Ende. Sie kannte Dominic wohl gut genug und wusste, dass er sich gegen eine Lösung der Beziehung mit allen Mitteln wehren würde. Daher ermächtige sie ihren Vater in einem kurzen Schreiben, ihre Sachen bei Dominic abzuholen.
Während ihre Eltern sich nun auf den Weg machten, rief sie ihren Cousin Heinrich an, um zu erfahren, wo man Josef besuchen könne. Doch es lief nur das Band. Aber das war eigentlich auch egal, denn selbst, wenn Josefs Kieferverletzung nicht in Heinrichs Fach passte, lag er sicher bei diesem auf der Internen Abteilung. Sie würde ihn daher leicht finden.
Sie kam gerade noch rechtzeitig. Josef stand in seinem Spitalsnachthemd, das am Rücken weit geöffnet war, vor seinem Kasten und wollte sich gerade anziehen. Kurzzeitig war er irritiert, bis er erkannte, wer ihn da besuchen kam. Jetzt, wo Steffi