„Sie blutete aus der Nase. Es sah so aus, als hätten wir beide noch eine Lektion zu lernen, auf die wir beide nicht vorbereitet waren.“ ANTIKÖRPER – nicht einfach Gegensätze – bewegt K.D. Regenbrecht innerhalb eines nahezu kreisförmigen Bezugsrahmens. Der Ich-Erzähler Kado beschreibt eine Gruppe von Menschen, von denen zwei vergewaltigt und ermordet werden. Dieser äußere Ablauf der Geschehnisse hält die Geschichte zusammen, macht sie zu einem packenden Krimi. Der nächst engere Ring schließt sich um die mehr als nur bedauernden Empfindungen, die Kado den beiden Opfern entgegenbringt. Sechzehn-, siebzehnjährig entsprachen die spontanen Bewegungen der jungen Frauen seinem Wunschbild von Frau. Im Zentrum aber steht die Gedankenwelt eines 30-jährigen Mannes, dessen Gefühle immer wieder von (männlicher?) Rationalität bedingt und dadurch auch eingeengt sind. Die Geschichte spielt 1976, also in der Erinnerung, die mehr als 10 Jahre zu überbrücken hat. Damit wird die Zeit selbst zum „Antikörper“, ist Teil des Erzählers und hat mit seiner Gegenwart nichts mehr zu tun. Oder doch? ANTIKÖRPER ist das zweite Buch eines 9-teiligen „documentum fragmentum“, das durch die kommentierende Kunstfigur Atti Bulu zusammengehalten werden soll. Ob das nun Kunst oder nur ein Kunstgriff eines Selbstverlegers ist, der mit Subskriptionsangeboten künftige Projekte bis 1990 vorfinanziert haben will, ist schwer auszumachen. Das erste Buch, ein Gedichtband, birgt eine aus der Not geborene Tugend von akademisch, abstrakten Worthülsen erster Schreibversuche, die viele Seiten füllt, aber wenig aussagt und kaum berührt. Wenn allerdings die folgenden Bände weiter solche Entwicklungssprünge an inhaltlicher wie formaler Qualität des zweiten Buches zeitigen, werden sich die professionellen Verlage noch einmal um den Autoren K.D. Regenbrecht reißen. Inhalt und Ausstattung dieses Buches sind für einen Selbstverleger jedenfalls erstaunlich befriedigend. Klaus-Dieter Regenbrecht: Antikörper. documentum fragmentum Bd. 2, Tabu Litu Verlag, Koblenz 1986, 166 Seiten. ISBN: 3-925-805-02-8 Vö.: zitty 19/1986
Wogatzki, Benito: Das Narrenfell
Das Gegenteil von re-signieren ist, ein Signal geben, aufzeigen, daß mensch da ist und, im Falle von Ulli Wuttke, seines Zeichens Betriebsschlosser in der Nachkriegszeit des „anderen Deutschland“, reibende Leere im Magen spürt. Wenn sich aber das schlichte Bedürfnis nach regelmäßiger und, wenn möglich, schmackhafter Nahrung politischen Erkenntnissen zum Wohle der ideologischen Allgemeinheit unterordnen soll, hat dieses Aufzeigen Folgen. Einfach zu sagen, ich habe Hunger, entbehrte der politischen Relevanz, wäre in dem Schilda des praktisch mißverstandenen Sozialismus nicht vertrackt genug. Da gilt es, Rücksichten zu nehmen und vorsichtige Findigkeit zu entwickeln.
„Der sowjetische Direktor und oberste Kommandant Genosse Jefremow hatte uns Spieler zusammen rufen lassen, dann redete er uns ins Gewissen. Er sagte: „Mannschaft heißen ROTER STERN – warum verlieren? Noch einmal verlieren – Schluß!“ Ein arbeitsfreier Nachmittag in jeder Woche für das Training, fünf Paar Fußballschuhe und die zusätzliche Fleischmarke für die Spieler waren damit auch verloren, obwohl Ulli Wuttke die gegnerische Mannschaft mit 160 Zentner Deputatskohle zur „Solidarität“ aufgerufen hatte. Ulli Wuttkes Kritik an der Kritik seines Engagements für den Fußball machte den Parteisekretär aufmerksam, und als der „erkannte“, welch „politische Wendigkeit“ Ulli Wuttke innewohnte, war Ulli Wuttke „vonne Landesregierung aufs Land delegiert“. Im Gegensatz zu Till Eulenspiegel ließ Ulli Wuttke sein Gegenüber nie mit voller Absicht glauben, er wäre für dieses oder jenes Amt geeignet, sondern das Gegenüber ließ Ulli Wuttke gar nicht erst zu Wort kommen, um dessen Fähigkeit in Frage zu stellen. Andererseits hatte Ulli Wuttke Hunger ... Mit den zwerchfellzwickenden Situationsbeschreibungen im real-aufzubauenden Sozialismus von damals, hält der Ost-Berliner Benito Wogatzki parteilich-liebevoll vor Augen, wie bürokratisch verwaltete Ideen im Alltag real-satirische Blüten treiben. Wer sich nun an der Schadenfreude über die „Zustände in der DDR“ berauschen will, dem sei hier zur Ernüchterung die unregelmäßig ausgestrahlte Unterhaltungssendung „BUNDESTAGSDEBATTE“ empfohlen. Benito Wogatzki: Das Narrenfell. Roman. Maro Verlag, Augsburg 1986. 300 Seiten. ISBN: 3-87512-074-4 Vö.: carpe.com 31.12.1999; buechernachlese.de.vu 31.12.2000
Wollenberg, Martin (Hrsg.): Büro
Ein Jahr nach der Herausgabe des U-BAHN-Lesebuches hat der Verlag nun offenbar seinen Zielort erreicht: Das Büro.
Wie schon sein Vorgänger besticht dieses Buch in seinem Lay-out. Fotos aus Archiven oder aktuell in Szene gesetzt, geben einen Einblick in die Welt der Bürokraten aus Wirtschaft und Behörde. Besonders zu erwähnen sind hierbei die Aufnahmen von Chr. Schulz, die Schaufensterpuppen in „lebendigen“ Posen an so einem Arbeitsplatz zeigen ... oder sind es Lebendige in Puppenpose?
Freimut Wössners Cartoons und Sprechblasen-Fotos mit ihren gekonnt angewandten Realsatiren des kleinen Alltagsmenschen tun ein Übriges, einen noch länger in diesem Buch blättern zu lassen. An der Typengröße wurde nicht gespart, und so kann mensch auch ohne Lupe nun mit dem Lesen dieses Potpourris in Sachen Büro anfangen. In den Büros gibt es .. Chefs und manchmal Chefinnen .. Vorzimmer mit Sekretärinnen, weniger Sekretären .. Probleme mit zuviel Essen, zuviel Trinken, zuviel Schlaf und zuviel Machtbefugnis .. fein sortierte Arbeitsmaterialien, von der Büroklammer bis hin zum Großcomputer .. und Büros sind auch von der politischen Wetterlage abhängig.
23 Autoren und Autorinnen inkl. des Herausgebers Martin Wollenberg hatten dazu etwas zu schreiben. Darunter auch Prominente wie Tucholsky, Kafka und -ky. Letzterer gibt den Auszug aus einem neuen Buch zum „Besten“, der sich durch seine aufgesetzten Witzeleien unangenehm abhebt. Die anderen Geschichten überzeugen zum größten Teil wegen ihrer Beobachtung leidvoller Erfahrungen am eigenen Leib. Klischees müssen dabei in Kauf genommen werden. Geschichten, die mit der Erwartung dieser Klischees spielen, um sie dann ad absurdum zu führen, trösten darüber hinweg.
Ein Lesebuch für alle, die mal vor, mal hinter dem Schreibtisch sitzen müssen und die Zeit nicht nur vertreiben wollen.
Martin Wollenberg (Hrsg.): Büro. Ein Lesebuch. Gerald Leue Verlag, Berlin 1986. 160 Seiten. ISBN: 3-923421-42-7
Vö.: zitty 26/1986; Ulcus Molle 10-12/1986; Andere Zeitung 2/1987
1986 – SACHBUCH
Name, Vorname | Titel | JahrBrinkmann, H. W.: Der Laubengang >1986 sb Denneny, Michael: Lovers >1986 SB Deschner, Karlheinz: Kriminalgeschichte des Christentums Bd.1 >1986 SB Diederich, Axel: Verzeichnis der Alternativ-Presse >1986 SB Jacobi, Heinz: Der Bote Nr. 11 >1986 SB Kruse, Harald: Überlebenstechnik >1986 SB Ney, Norbert: Ratgeber Sterilisation >1986 SB Oltmanns, Reimar: Der Intrigant >1986 SB Weißenborn, Theodor: Die Paten der Raketen >1986 SB
Brinkmann, H. W.: Der Laubengang
DER LAUBENGANG ist eine Verbindung zwischen den Gebäudetrakten einer Jugendjustizvollzugsanstalt. H. W. Brinkmann hatte aber nicht den Anspruch, die durchaus möglichen brutalen „Vorkommnisse“ innerhalb solch einer Zwangsgemeinschaft zu dokumentieren.
Der Untertitel IDYLLE MIT JUSTIZIA zielt auf bundesdeutsche Angestellte und Beamte und deren bürokratischen Umgang miteinander. Der Amtsschimmel wiehert, es darf gelacht werden. Wer in dieser Anstalt gefangen und wer Hüter der Gefangenen ist, wird in einer nicht abreißenden Kette grotesk akrobatischer Slapsticks vorgeführt. Dennoch kommt nur „beschaulicher“ Humor a la Familie Kishon heraus. Der mag in dieser unserer tristen Zeit auch vonnöten sein, nach dem Motto: Man kann doch nicht immer nur in der Tiefe gründeln.
Ob dazu dann aber gerade die starke Metapher „Gefängnis“ derart einschichtig und an der Oberfläche „abgehandelt“ werden sollte, erscheint fraglich. Ein Bürobetrieb hätte vielleicht ein besseres Vorbild abgegeben.
Die Autobiographie H. W. Brinkmanns weist ihn ja in Fragen des Gefängnisalltags als kompetent aus – warum mit dieser Grundlage nicht einen Schritt weiter gehen, und sich schwarzhumorig um die Satire verdient machen?
H. W. Brinkmann: