»Das tue ich nicht. Ich werde nicht über dich richten, denn ich sehe kein Vergehen darin, von einer Welt zu träumen, wie sie sein könnte. Jedoch rate ich dir, sie gut zu verstecken. Du magst fast blind sein, doch jeder, der hier herein kommt und dich damit sieht, könnte dich im Palast melden.«
Der Mann schien bislang noch nicht über diese Möglichkeit nachgedacht zu haben und blickte nun verängstigt. Dann hellte sein Gesicht sich jedoch auf.
»Vielleicht war es Schicksal, dass Ihr mich ausgerechnet heute aufgesucht habt. Ich habe die Karte nämlich schon lange nicht mehr hervorgeholt. Bei Tagesanbruch hatte ich jedoch das Gefühl, ich solle es unbedingt tun. Nur deshalb war ich so töricht, sie für Eure Augen offenzulegen. Und möglicherweise sollte es genau so sein. Wenn ich es recht bedenke, möchte ich sie Euch doch überlassen. Mir selbst ist sie ja im Gedächtnis, und ich brauche sie eigentlich nicht mehr.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Kyla, die von der Entwicklung des Gesprächs überrascht war. Sie hatte dem Mann nicht drohen wollen, um ihn zur Herausgabe der Karte zu drängen. Aber er schien ihr tatsächlich von der Idee selbst ganz angetan zu sein, sie ihr zu überlassen. Vielleicht hatte er recht damit, dass das Schicksal es so gewollt hatte. Er faltete sie zusammen und griff nach einem Buch, das neben ihm lag. An irgendeiner Stelle schlug er es auf und legte die Karte hinein.
»Sie ist von nun an Euer Eigentum. Und auch dieser Schmöker, in dem ein feuriger Jüngling das Herz seiner Auserwählten mit Liedern und Gedichten erobert. Vielleicht findet Ihr ja doch irgendwann Gefallen daran.«
Kyla bezweifelte es, doch sie dankte ihm und holte ihre Münzen hervor.
»Nein, gebt mir kein Geld für die Karte. Das Schicksal möchte keine Entlohnung.«
»Das Schicksal vielleicht nicht, aber du ganz sicher. Doch wenn dir das wichtig ist, dann zahle ich nicht für die Karte, sondern für das Buch.« Sie legte ihm eine stattliche Summe in die Handfläche und hoffte, seine Krankheit war nicht ansteckend.
»Das ist zu viel«, wandte der Mann beschämt ein.
»Ich denke nicht. Sollten die Chyrrta dieser Stadt sich gänzlich aufs Naschen und das bequeme Leben verlegen, so kannst du mit etwas Wohlstand weiterhin träumen – vor allem, wenn deine Bücher und Karten nur noch in deiner Erinnerung leben.«
»Habt Dank, dass Ihr einem alten Kauz wie mir seine anfängliche Knurrigkeit nachseht. Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«
Die junge Kriegerin überlegte, dann sagte sie: »Ja, wenn du etwas zu schreiben für mich hättest, damit ich eine Botschaft schicken kann, wäre das vortrefflich.«
Er öffnete eine Schublade und zog daraus einen Bogen Papier und eine Schreibfeder samt Tintenfass hervor. Kyla dankte ihm und verfasste eine Nachricht an Paraila, in der sie ihr von ihrem Besuch in dem Bücherladen berichtete. Sie informierte sie darüber, dass Quyntyr offenbar nicht versucht hatte, seine Bücher hier zu Geld zu machen. Und sie teilte ihr mit, sie würde sich in den umliegenden Dörfern nach ihm erkundigen, weil sie vermutete, dass er in einem preiswerten Gasthof oder auch bei einfachen Leuten, die sich ein paar Münzen verdienen wollten, Unterschlupf gesucht hatte. Kyla verabschiedete sich von dem alten Mann, nahm ihr Buch samt Karte und verließ das Geschäft. Schon an der nächsten Ecke fand sie einen Boten, der in ihrem Namen die Nachricht zum Palast bringen würde. Der Mann ritt auf einem alten Pferd, das die Strecke schon mehrfach bewältigt hatte, laut dem Boten jedoch etwas länger als üblich benötigte. Kyla lobte ihn für seine Ehrlichkeit und beruhigte ihn, indem sie ihm versicherte, die Botschaft sei nicht ganz so eilig. Natürlich würde Paraila das anders sehen, aber Kyla beruhigte der Gedanke, dass sie auf diese Art Zeit gewann.
Zufrieden schlenderte sie durch die Straßen der Stadt und beobachtete erneut ein paar Glinthas, die geradezu räuberisch über einen Brotstand herfielen. Der Verkäufer versuchte sie abzuwehren, indem er mit den Armen fuchtelte und die Vögel anschrie. Das Ergebnis war, dass die Tiere hektisch einige Brotlaibe mit ihren Schnäbeln zerhackten und auf anderen vor Schreck ihre Exkremente fallen ließen.
Kyla verging der Appetit auf Brot vorerst. So schön das Gefieder der Glinthas auch anmuten mochte, Kyla verstand, warum die Bewohner von Tritam sie als Plage ansahen und gleich in Massen verbrannten. Dennoch war sie froh, dieses Schauspiel nicht mit ansehen zu müssen. Sie wollte sich gerade auf den Rückweg zum Gasthaus machen, als sie den Blick eines jungen Mannes bemerkte. Ein schlaksiger Kerl mit einem Bart, der an manchen Stellen bereits prächtig spross, an anderen jedoch nur Flaum zustande brachte. Der Mann sah Kyla an und wagte es sogar zu lächeln, als sie zurückblickte. Kylas Hand ging zum Griff ihres Messers. Zwar wirkte ihr Beobachter harmlos, doch der Schein trog oft, wie sie inzwischen wusste. In Kämpfen wurden die zarten Männer oft eingesetzt, um die größten Schäden anzurichten. Der Feind nutzte es, dass man denen, die schwächlich aussahen, nicht zutraute, vernichtend zuzuschlagen – und viele Kämpfer hatten ihre Fehleinschätzung schon mit dem Leben bezahlt. Kyla hingegen war immer auf der Hut und bereit, auch diejenigen zu töten, die ihr lächelnd die Kehle durchschneiden wollten. Der Jüngling kam näher. Er senkte den Blick und deutete eine Verbeugung an.
»Was möchtest du? Sprich!«, wies sie ihn an. Nun, da er die Erlaubnis hatte, blickte er ihr wieder in die Augen und seine Wangen erröteten.
»Ihr seid Kyla, Kriegerin der grünen Wasser, habe ich recht?«
Kyla nickte. Sie hoffte, dass die Chyrrta in ihrer Nähe ihn nicht gehört hatten.
»Es ist so eine Ehre, auf Euch zu treffen! Und Euch Dank zu sagen.«
»Dank ist nicht notwendig. Ich schütze Parailas Volk, weil es meine Bestimmung ist.« Der junge Mann sah kurz verwirrt aus, dann lächelte er etwas unbeholfen.
»Verzeiht, dass ich mich so schwer ausdrücke. Es ist ... ich bin es nicht gewohnt, mit Chyrrta von so hohem Rang umzugehen. Ganz im Gegensatz zu meiner zukünftigen Braut, die Euch schon so lange am Palast dienen darf. Dafür, dass Ihr sie immer gut behandelt habt, wollte ich Euch ganz besonders danken.«
Kyla hatte keine Ahnung, von wem er sprechen könnte. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, er könne Lanari meinen – doch wie sollte das möglich sein, da diese ja Tondha erwählt hatte? Der junge Mann bemerkte Kylas Ratlosigkeit, mit einem abermals scheuen Lächeln erklärte er: »Eure Dienerin Tari ist meine Verlobte. Sie hat ihre Ausbildung zur Dienerin erfolgreich beendet und wird hierher nach Tritam kommen. Ich bin sehr glücklich, dass sie hier Arbeit gefunden hat.«
Kyla war von diesen Neuigkeiten völlig überrannt. Warum hatte man ihr gar nichts davon gesagt? Andererseits war ihr Aufbruch sehr überstürzt gewesen. Dennoch, dass Tari sie verlassen würde, war sicher schon länger geplant. Und vermutlich stand bereits eine andere junge Frau bereit, um ihre Stelle zu übernehmen. Hatte Paraila nie darüber nachgedacht, dass sie in dieser Hinsicht gerne ein Wörtchen mitreden würde? Immerhin erhielt eine Dienerin einen sehr intimen Einblick in ihr Leben, und Kyla wünschte sich daher, bei solchen Entscheidungen zumindest einbezogen zu werden. Der junge Mann betrachtete sie eingehend. »Ihr habt gar nicht gewusst, dass Tari Euch verlässt«, schlussfolgerte er schließlich.
»Das stimmt. Ich wusste es nicht.« Kyla ärgerte sich maßlos, dass sie so eine wichtige Nachricht nie erhalten hatte, doch der Jüngling nickte nur wissend.
»Es ist Galynda. Sie organisiert alles, aber sie behält Dinge auch gerne für sich.«
»Galynda? Aber warum sollte sie mir so etwas verschweigen? Es gibt doch keinen Grund dafür, denn ich erfahre es ja ohnehin.«
»Das weiß ich nicht. Von Tari weiß ich nur, dass Galynda oftmals sehr geheimnisvoll tut, und sie froh ist, die Zeit im Palast nun hinter sich zu haben.«
Er wurde tiefrot, als ihm klar wurde, dass er damit auch Kyla indirekt beleidigt hatte.
»Verzeiht mir bitte! Ich spreche oft, ohne vorher zu denken. Tari wirft mir das immer wieder vor. Und sie ist so viel gewandter