Der Pferdestricker. Thomas Hölscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Hölscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750219397
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die Möglichkeit, die Hände schützend vor sein Gesicht zu nehmen, schon wegen der hinter seinem Rücken zusammengebundenen Hände nicht gehabt. Aber ganz offensichtlich hatte er mit einer solchen Reaktion auch überhaupt nicht gerechnet. Über die rechte Gesichtshälfte zog sich nun ein immer dunkler werdender roter Streifen, die Oberlippe war aufgeplatzt und blutete auf das weiße Fußballtrikot.

      So ist es doch?, rief der jüngere Mann noch einmal außer sich vor Wut und sah den älteren erwartungsvoll an.

      Der schüttelte nur langsam den Kopf. Nein, sagte der schließlich leise. So ist es nicht.

      Sekundenlang noch fixierten die Blicke des jüngeren den anderen Mann, bis sich seine Gesichtszüge urplötzlich aufhellten und er mit der Gerte auf das Gesicht des älteren Mannes deutete. So ein Schmiss im Gesicht steht Ihnen übrigens richtig gut, sagte er schließlich. Macht Sie männlich. Er lachte kurz. Noch männlicher.

      Es war eine Zeit lang still, und als sei ihm diese Stille schließlich zu peinlich geworden, sagte der jüngere plötzlich: Eigentlich müssten Sie mich doch fragen, warum ich ausgerechnet Sie ausgesucht habe.

      Ich frage es mich aber nicht.

      Doch, natürlich haben Sie es sich schon häufig gefragt. Das letzte Mal haben Sie es sich in der Wohnung Ihres Freundes Sundermann gefragt. Ich weiß es doch.

      Man sollte sich schämen, wenn man fremde Menschen in deren Wohnung abhört.

      Einen Augenblick lang schien der jüngere Mann diese Bemerkung des älteren nicht einordnen zu können; dann ging er darauf mit keinem Wort ein. Es war wegen Milewski, sagte er stattdessen schließlich. Milewski hat mir alles über Sie erzählt.

      Ich wüsste nicht, was Milewski dir über mich erzählt haben sollte.

      Ach nein? Der jüngere Mann grinste breit.

      Nein.

      Dass Sie sogar seine Scheiße gefressen hätten, wenn er es verlangt hätte, das hat er mir erzählt.

      Der ältere Mann schüttelte den Kopf, als habe ihn die Geschmacklosigkeit der Bemerkung des jüngeren schockiert. Ich habe noch nie Scheiße gefressen, und Gottseidank ist auch Volker Milewski nie so weit gesunken, etwas Derartiges von mir zu verlangen.

      Wirklich nicht?, fragte der jüngere Mann höhnisch.

      Nein, wirklich nicht.

      Abrupt stand der jüngere Mann auf. Na gut, sagte er und wandte sich an den riesigen Kerl. Komm her!, rief er. Dann richtete er die Pistole auf den älteren Mann. Und Sie stehen auf!

      Der Mann auf dem Pferd trieb das Tier vorsichtig aus dem Wasser und hielt es keine zwei Meter von den anderen beiden Männern entfernt an. Die ganze Zeit hielt der jüngere Mann dabei die Pistole auf ihn gerichtet. Es sieht wahnsinnig aus, sagte er leise. Ganz einfach wahnsinnig.

      Es ist widerlich, sagte der ältere Mann und wandte den Blick ab.

      Warum denn das?

      Es ist entwürdigend, einen anderen Menschen zu so etwas zu zwingen.

      Hatte der nackte Mann bisher wie versteinert auf dem kleinen Tier gesessen, als sei er nicht mehr als eine notwendige Requisite in einem Theaterstück, so war nun deutlich zu sehen, dass sein Gesicht vor Scham rot wurde, ein uralter Reflex, der sich jeder bewussten Kontrolle entzog.

      Entwürdigend!, wiederholte der junge Mann und gab seiner Stimme einen übertrieben empörten Klang. Und zu gar nichts muss man diesen Körper zwingen. Der will das, der genießt das doch.

      Es ist einfach entwürdigend, wiederholte der ältere entschieden und wandte erneut den Blick ab.

      Mit der Gerte berührte der jüngere Mann das Kinn des älteren. Sie sollen ihn ansehen.

      Wozu das?

      Weil ich es so will. Erst als der ältere den Blick wieder dem Mann auf dem Tier zugewandt hatte, fuhr der jüngere fort. Man kann es doch sehen. Dieses Vieh ist zu nichts anderem erschaffen als dazu, von diesem Körper beherrscht zu werden. Und dieser Körper ... Er berührte mit der Gerte das Knie des nackten Mannes und fuhr langsam über dessen Oberschenkel nach oben, als müsse er dem anderen ganz genau zeigen, was dieser zu beobachten hatte, ohne selber genau zu wissen, was das eigentlich war. Dieser Körper ist zu nichts anderem da als dazu, diese armselige Kreatur zu beherrschen. Alle armseligen Kreaturen. Man kann es doch sehn! Schau doch genau hin!

      Was soll ich sehen?

      So und nicht anders ist die Welt. Brutal und genial.

      Die Welt kann man verändern.

      Einen Augenblick lang sah der jüngere den älteren Mann an, als habe der gerade allen Ernstes etwas Ungeheuerliches behauptet, das jeder Vorstellung des gesunden Menschenverstandes zuwiderlief. Vielleicht kann man das, räumte er schließlich ein, wir tun es ja andauernd, aber das kann man doch gar nicht wollen.

      Man muss es sogar.

      Warum denn?

      Zum Beispiel weil dieser Körper Stefan Westermann heißt und in keiner Weise da ist für Dinge, zu denen du ihn zwingst.

      Der jüngere Mann schien einen Augenblick irritiert, dann lachte er kurz. Und wie über die Naivität seines Gegenüber amüsiert schüttelte er schließlich den Kopf. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich über meinesgleichen auch alles gelesen habe, was irgendwelche Seelenklempner sich ausgedacht haben. Sie wollen mir weismachen, dass ich nichts als ein perverser Serienmörder bin, und nun machen Sie mich auf Individuen aufmerksam, geben ihnen allen Namen, weil mich das angeblich daran erinnern soll, dass ich es mit wirklichen Menschen und nicht mit beliebigen Opfern oder Sachen zu tun habe. Er grinste. Ich weiß das doch alles. Sie können sich ihre Bemühungen ersparen.

      Eine Zeitlang war es still. Manchmal glaube ich, dass auch Sie nur Angst haben, fuhr der jüngere schließlich fort.

      Wovor sollte ich Angst haben?

      Vor diesem Bild natürlich. Wieder wies der jüngere Mann auf den nackten Mann auf dem Pferd.

      Ich habe davor keine Angst, aber es empört mich und ich finde es widerlich.

      Sie haben Angst, fuhr der andere unbeirrt fort, weil es Sie an Milewski erinnert.

      Warum sollte es mich an Volker Milewski erinnern.

      Weil es deine Beziehung zu Milewski auf den Punkt bringt: Der ist oben, du bist unten. Du bist doch auch nichts anderes als eine armselige Kreatur. Das ist die Realität, und man kann das akzeptieren, oder man geht daran zugrunde.

      Niemals. Ich war niemals unten, sagte der ältere Mann entschieden. Und ich will vor allen Dingen nicht, dass du mich duzt. Für Sekunden schien der jüngere Mann plötzlich völlig irritiert, schien mit den Augen hilflos und ohne jedes Ziel zwischen Gegenständen in der nächsten Umgebung hin und her zu irren, nur um den älteren nicht ansehen zu müssen. Außerdem, fuhr der ältere schließlich fort, ist Milewski tot. Deine Götter können also sterben. War dir das eigentlich klar?

      Natürlich!, stimmte der jüngere sofort zu. Nur dumme Menschen wollen das nicht glauben. Natürlich ist jeder Gott nur ein Firlefanz in unserem Kopf. Ein Traum. Eine Sehnsucht. Sonst nichts.

      Irgendwo in der Ferne war das Aufheulen eines Motorradmotors zu hören, es steigerte sich für einen Moment zu provozierender und fast unverschämter Lärmbelästigung und entfernte sich dann in einer scheinbar menschenleeren Szenerie. Für einen kurzen Augenblick schien das Tier plötzlich unruhig werden zu wollen, und der junge Mann richtete die Pistole auf den nackten Mann. Und Sie setzen sich wieder auf den Boden!, sagte er zu dem älteren. Um mit den auf dem Rücken zusammengebundenen Händen keine hektischen Bewegungen zu verursachen, ließ der sich langsam in das trockene Gras sinken. Als müsse er sich über die Richtigkeit der neuen Konstellation absolute Sicherheit verschaffen, ließ der jüngere seinen Blick hektisch zwischen den beiden anderen Männern hin- und herschweifen. Erst als alles seine Richtigkeit zu haben schien, setzte auch er sich wieder neben den älteren.

      Weißt du es eigentlich selber?, fragte der plötzlich.