29. Januar 2010. Pier Becker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pier Becker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844240146
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Erbkrankheit, die angeblich zuletzt drei Generationen zuvor in der Familie das letzte Mal aufgetreten war, starben.

      Igor war damals dreizehn und zutiefst erschüttert. Er empfand großen Schmerz über den Verlust seiner kleinen Geschwister, die er sich so lange schon gewünscht hatte. Vor allem die Art und Weise ihres Ablebens machte ihm schwer zu schaffen. Sie starben langsam und grausam. Dieses Leid war Generationen zuvor vorprogrammiert worden, einfach so.

      Igor kanalisierte den Schmerz in eifriges Lernen in der örtlichen Oberstufe. Er wurde immer mehr zum Einzelgänger und stürzte sich zusehends in seine Bücher, vor allem im Fachbereich Medizin und ein bisschen auch in die Genlehre, letztere zu jener Zeit nur sehr wenig dokumentiert.

      Freunde hatte er keine, und zu seinen Eltern unterhielt er eine eher distanzierte, kühle Beziehung. Er wusste, dass er ihnen oft unterbewusst die Schuld am frühen Tode seiner Geschwister gab, denn Menschen, die erblich so vorbelastet waren wie sie, durften keine Kinder bekommen. Niemals! Er selbst hatte einfach nur Glück gehabt, es hätte genauso gut auch ihn erwischen können. Und Glück war ein unberechenbarer Faktor, den Igor nicht so recht einordnen konnte. Er bevorzugte so viel Kontrolle wie möglich, schon in sehr jungen Jahren.

      Schließlich, mit etwas über siebzehn, folgte er seines Vaters Fußstapfen und ging nach Moskau an die Lomonossow-Universität, das beste und renommierteste Institut im Lande bis heute, um dort Medizin zu studieren.

      Das Studium selbst fiel Igor leicht, hatte er doch in den vier Jahren zuvor bereits sämtliche Bücher und sonstige Schriftstücke zum Thema Medizin verschlungen, die er in die Hände bekommen konnte.

      Seine Vereinsamung nahm allerdings in der Metropole Moskau eher zu. Niemand wollte mit einem Kerl verkehren, der die Lektüre eines abstrusen Aufsatzes über Gentechnologie einer ordentlichen Runde Wodka mit ein paar aufreizenden Mädchen vorzog, erst recht nicht die jungen und hübschen Frauen in der Hauptstadt.

      Demzufolge entwickelte sich Igor in den nächsten zehn Jahren, erst während des gesamten siebenjährigen Medizinstudiums bis zu seiner Promovierung und auch danach, zu einem rätselhaften Einzelgänger ohne irgendwelche nennenswerten sozialen Bindungen. Er wurde allerdings auch zum wichtigsten Experten der Gentechnologie landesweit, vielleicht sogar zum einzigen Mediziner, der von jener Materie in Russland überhaupt wirklich etwas verstand.

      Zu jenem Zeitpunkt, Igor war nun siebenundzwanzig, lernte er Maria kennen, eine zwanzigjährige Medizinstudentin im dritten Jahr an der Universität, die sich sehr für ihn und seine Genlehre interessierte. Sie war groß und schlank, brünett, hatte lange Haare und wunderschöne helle, blaue Augen, deren Glanz und Ausstrahlung er nie wieder vergessen sollte. Igor verliebte sich zum ersten Male in seinem Leben. Sie verbrachten einen ganzen Sommer und den darauf folgenden Herbst mit langen Spaziergängen am Fluss Moskwa, bei denen sie fast ausschließlich über sein Fachgebiet sprachen. Maria blockte stets jeden Versuch ab, in irgendeiner Weise über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, was Igor recht seltsam fand, angesichts der Tatsache, dass sie sich so perfekt verstanden, ungemein liebten und ihr gemeinsamer Sex sehr intensiv und gefühlsbetont war.

      Es sollte nicht lange dauern, bis er erfuhr, was der Grund dafür war. Maria starb an einem kalten Dezembermorgen an einer ähnlichen Erbkrankheit wie einst seine Geschwister. Einige ihrer Vorfahren waren vor Generationen ebenfalls daran gestorben. Sie hatte immer davon gewusst, dass sie eine tickende Zeitbombe in sich trug und sich deshalb, wie er, schon sehr früh für Medizin und Genlehre interessiert. Ihre Liebe für Igor war eine logische Konsequenz daraus. Trotzdem waren ihre Gefühle füreinander immer sehr echt gewesen.

      An ihrem Sterbebett schwor er ihr ewige Treue und, dass er sein Leben der Bekämpfung aller Arten von Krankheiten widmen würde. Er würde wohl nie aufhören, Maria zu lieben.

      Etwa ein halbes Jahr später überfiel Adolf Hitlers Wehrmacht mit der Operation Barbarossa Josef Stalins Sowjetunion. Es war der 22. Juni 1941. Igor Wladimirowitsch Iwanow, geboren an einem Freitag, den 18. April 1913 in einem kleinen Dorf nahe Zarizyn, später Stalingrad und Wolgograd, war achtundzwanzig Jahre alt.

      6

      Stalingrad, 3. Januar 1943

      Es war ein eiskalter Sonntagmorgen, als Igor verzweifelt versuchte, das Leben des Soldaten Dmitrij Sergejewitsch Petrow zu retten. Diesen hatte es gerade einmal in die Brust und einmal seitlich am Kopf erwischt. Zwei deutsche Maschinengewehrkugeln hatten ihn vor nicht einmal einer Minute getroffen.

      Igor, der zuständige Feldarzt, war sofort herbeigeeilt, doch er konnte nichts mehr für den Verwundeten tun. Während er ihn anlog, dass alles wieder in Ordnung kommen würde, und seine Hand fest hielt, war Dmitrij in seinen Armen gestorben. Er hatte dabei Igor ängstlich und traurig zugleich in die Augen geblickt , genauso, wie die vielen hundert anderen gefallenen Soldaten zuvor, seitdem Igor Ende Juni 1941 in Moskau direkt aus seinem Forschungslabor heraus von der Roten Armee eingezogen worden war.

      Seit Herbst 1942, als die Deutschen unter Führung von Generaloberst Friedrich Paulus die alles entscheidende Schlacht um Stalingrad eingeläutet hatten, gehörte er als Major und Feldarzt der 63. Armee unter Generalleutnant Kuznezow an. So war Igor wieder in seine Heimatregion gelangt und hatte seitdem mehr Tod und Verderben gesehen, als es eine Menschenseele alleine eigentlich jemals vertragen konnte. Anders als die technisch hervorragend ausgerüsteten und bestens ausgebildeten Nazis war die rote Armee miserabel ausgestattet. Auf zwei zumeist nicht ausreichend ausgebildete Soldaten kam ein Gewehr. Nicht selten musste ein sowjetischer Soldat in der Schlacht unbewaffnet mit nur fünf Patronen in der Hand einem anderen hinterher laufen, bis dieser fiel, um dessen Gewehr aufzunehmen und weiterzukämpfen. Diese Sekunden erschienen einem Kämpfer wie Stunden. Die meisten schämten sich unendlich, wenn sie hofften, dass der Partner endlich getroffen wurde, um an die Waffe heranzukommen. Es war menschenunwürdig, wie jeder Krieg zuvor in der Geschichte der Menschheit, nur noch viel hoffnungsloser.

      Von zehn Verwundeten, gelang es Igor im Schnitt höchstens zwei zu retten, sodass sie es auch überlebten. Einer davon starb dann garantiert beim nächsten Gefecht. Es war zum Verzweifeln.

      Jetzt lag Igor im eiskalten Schützengraben auf dem Rücken, erschöpft, durchfroren und demoralisiert neben dem Leichnam Dmitrijs, der ihn immer noch mit seinen toten Augen anstarrte, als ob er sagen wollte: “Komm doch, geh auch drauf, Igor, dann geht’s dir auch besser, wie mir jetzt.“

      Aber Igor würde nicht aufgeben. Er hatte es bis hierhin geschafft. Er hatte überlebt und er würde diesen Krieg unversehrt überstehen, das wusste er genau. Während die Maschinengewehre und Haubitzen beider Seiten ratterten und dröhnten und Soldaten hüben und drüben wie die Fliegen umfielen, beobachtete er, wie in Trance, das Geschehen um ihn herum, als ob er in einem Kino säße und dies alles nur ein Film sei.

      Josef Stalin hatte es der Bevölkerung Stalingrads untersagt, die Stadt zu verlassen. Er war der Meinung, es würde die Moral der Truppen steigern, wenn es galt, ebenfalls Frauen, Kinder und Alte mitzuverteidigen und nicht nur eine bereits halb zerstörte Stadt. So verurteilte der Diktator weitere zehntausende Zivilisten zu einem grausamen Tod.

      Manchmal fragte sich Igor, ob es denn überhaupt einen großen Unterschied zwischen Hitler und Stalin gab. Beide waren über alle Maße machtbesessen, beide hatten mehrere hunderttausende, wenn nicht gar viele Millionen Menschen direkt oder indirekt ermordet und beide verfolgten Ziele, die, das wusste Igor als gebildeter und intelligenter junger Mann, nicht in eintausend Jahren realisierbar waren. Igor bevorzugte den Sozialismus dem Faschismus um Längen, nicht nur, weil er durchaus ein patriotischer Russe war, sondern auch, weil er ebenfalls daran glaubte, dass alle Menschen gleiche Rechte auf Freiheit, Frieden, Gesundheit, Land, Besitz und alles andere hatten. Die Nazis hingegen wollten alle in ihren Augen Minderwertigen ausrotten und eine Gesellschaft von Privilegierten schaffen. Igor verabscheute den Tod und noch mehr jegliches Morden. Als Arzt war er dem Leben verpflichtet und dessen Erhaltung, Verlängerung und Optimierung.

      Allerdings würde der Sozialismus auch scheitern, denn Menschen waren nun mal ehrgeizig und gierig, oft an der falschen Stelle, und dieser Ehrgeiz und diese Gier würden Marx’ und Engels Theorien früher oder später