Morgen wirst Du frei sein. Claudia Martini. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Martini
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844252873
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und stellte ihr Rad in den Schuppen. Dann sah sie mich am Fenster stehen.

      »Magst du mir nicht helfen?«

      Ich ging hinaus, warf mir eine Art Seesack über die Schulter, nahm eine Tasche und trug sie ins Haus.

      »Wohin?«, wollte ich wissen.

      »Ins Schlafzimmer.«

      Während sie auspackte, stand ich in der Tür an den Rahmen gelehnt.

      Sie hatte ihre Kleidung geholt. Unterwäsche, Strümpfe, Schlafanzüge, Hosen, Shirts, Blusen, Pullover. Keine Röcke oder Kleider. Sie sortierte alles auf dem Bett und öffnete die Schranktüren. Seufzte.

      »Haben wir große Müllsäcke?«, fragte sie über die Schulter.

      »Ich denke schon.«

      Sie schaute mich an. »Und? Holst du mir welche? Sei so lieb.«

      Ich gehorchte.

      Als ich zurück war, die blauen Beutel in der Hand, war der Fußboden bedeckt mit Mutters Kleidern.

      »Magst du das alles in die Säcke stopfen? Wir können sie bei Gelegenheit zur Rotkreuzstation bringen, da sind Altkleidercontainer. Weißt du, wo?«

      Ich nickte, bewegte mich aber nicht.

      Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Ach, gib her, ich mach das«, winkte sie ab. »Warum hackst du nicht Holz für heute Abend? Es ist doch etwas kühl, wenn man auf dem Sofa sitzt. Und so ein knisterndes Feuer im Ofen ist urgemütlich, findest du nicht?«

      Ich verließ das Haus, ging zum Schuppen und starrte auf den vor dessen Wand sauber geschlichteten Holzstapel, auf die Axt, auf den Holzklotz. Mutter hatte Angst vor der Axt gehabt, schon immer. Nach Vaters Tod hatte ich mich um Feuerholz gekümmert.

      Ich nahm das Beil, wog es in der Hand. Dann legte ich ein Stück Holz zurecht und spaltete es mit einem Hieb. Wie es diese Frau angeordnet hatte, die in diesem Moment damit beschäftigt war, bei mir einzuziehen.

      Die Tage vergingen. Ich gewöhnte mich an die neue Situation, an die Freundlichkeit, mit der ich behandelt wurde, an die Gelassenheit, mit der Thea, wie ich sie nach einigem Zögern nun nannte, das Leben anzugehen schien. Sie plauderte, diskutierte, hinterfragte, erkundigte sich nach meiner Meinung, nach meinen Wünschen und Plänen.

      Ich entspannte mich zunehmend.

      Sie war einfach da, so, als wäre es niemals anders gewesen. Und sie würde, das war mir rasch klar geworden, nicht mehr verschwinden. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt wollte, dass sie mich verließ.

      Hin und wieder brach sie mit ihrem Fahrrad auf und blieb einige Stunden weg. Ich hatte mich nie getraut, sie zu fragen, wohin sie fuhr.

      Zwei Wochen nachdem sie vor meiner Haustüre gesessen hatte und mit einer Selbstverständlichkeit geblieben war, die mich noch immer verblüffte, folgte ich ihr.

      Sie radelte die Straße hinunter bis zur Dorfstraße, bog rechts ab und sofort links in einen Feldweg ein. Ich hielt Abstand. Als sie am Waldrand angekommen war, trat ich in die Pedale. Meine Augen brauchten einen Augenblick, bis sie sich an die Dämmerung im Wald anpassten, dann sah ich Thea wieder.

      Sie war mehrere hundert Meter entfernt. Sie bog ab in einen Trampelpfad, den Jäger nutzten, um zu einer Fütterungsstelle für Wild zu gelangen. Ich beschleunigte, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich erkannte ich meinen Fehler. Sie hatte angehalten, sich umgedreht, schaute mir entgegen.

      Ich blieb stehen, verlegen.

      »Und? Jetzt?«, fragte sie.

      Ich wusste keine Antwort.

      »Fahr nach Hause!«

      Ich zögerte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

      »Sofort!«

      Ich nickte, drehte mein Fahrrad um und kurbelte davon. Ich schämte mich.

      Am Abend saß ich in der Küche, die Uhr im Blick, und wartete auf sie. Ich machte mir Sorgen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und Hunger.

      Ich schmierte mir ein Brot, aß es im Stehen vor dem Fenster. Draußen wurde es allmählich dunkel. Blaue Stunde hatte meine Großmutter diese pastellfarbene Stimmung genannt.

      Ein Geräusch an der Haustüre. Sie war wieder da. Ich seufzte erleichtert. Ich hatte sie nicht kommen sehen, sie musste sich über die Wiese hinter dem Haus genähert haben. Ich wandte mich um.

      »Tu. Das. Nie. Wieder.«

      Meine Nackenhaare richteten sich auf beim Klang ihrer Stimme und dem Ausdruck in ihren Augen.

      »Geht klar«, flüsterte ich.

      »Und jetzt schür doch mal den Ofen an, es ist etwas frisch hier drin. Hast du schon gegessen?«

      Als wäre nichts gewesen. Als hätte ich mir die eiserne Kälte ihrer Worte nur eingebildet.

      »Ja. Ein Brot.«

      »Soll ich noch ein paar Reibekuchen machen?«

      »Ich habe keinen Hunger. Ich ...«

      »Ja?«

      »Mir ist übel.«

      »Oje. Ich mach dir einen Tee und eine Wärmflasche. Leg dich aufs Sofa und pack dich in die Decke ein! Ich bin gleich bei dir.«

      5. Kapitel

      Ende September ging ich wieder zur Arbeit. Kurz vor Semesterbeginn nahm der Andrang in der Buchhandlung für gewöhnlich zu. Man benötige meine Hilfe, hatte man mir mitgeteilt, und ich brauchte das Geld.

      Ich parkte das Auto am Bahnhof und stieg in den Zug nach München. Thea hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es für sie indiskutabel war, dass ich Zeit im Bus verschwendete.

      »Auf dem Rückweg kannst du beim Supermarkt anhalten. Ich hab dir eine Liste geschrieben. Es wäre doch ungeschickt, zwei Wege nicht zu einem zu verbinden, oder?« Sie zwinkerte mir zu. »Ich kümmere mich heute mal um den Garten. Die Beete sehen verheerend aus!«

      Im Laden in der Schellingstraße herrschte Hochbetrieb. Während meine Kollegen Kunden berieten, saß ich am Computer, arbeitete mich durch Verlagsverzeichnisse und tippte Bestellungen. Mittags biss ich in das Wurstbrot, das Thea mir mitgegeben hatte, und aß einen Apfel.

      Es dämmerte bereits, als ich wieder im Zug saß. Ich schaute auf die Uhr und berechnete, ob ich es noch vor Geschäftsschluss in den Supermarkt schaffen würde.

      Als ich auf den Parkplatz einbog, sperrte der Marktleiter soeben die Türe ab. Verdammt.

      Mit mulmigem Gefühl steuerte ich nach Hause.

      Thea hatte mich kommen hören, trat aus der Tür, kam auf den Wagen zu, spähte durch die Heckscheibe ins Innere. »Wo hast du denn die Lebensmittel?«

      Ich stieg aus, breitete hilflos die Arme aus, suchte nach einer Entschuldigung. »Ich ... Ich war spät dran. Es ...« Ich räusperte mich. »Sie hatten gerade geschlossen. Also, den Laden. Es war ... So viel los heute. Ich ...« Verzweifelt verstummte ich.

      Sie stand vor mir, schaute mich mit diesem bohrenden Blick an, der mich total verunsicherte. Ich betrachtete meine Füße.

      »Was hast du denn? Ist doch kein Problem! Dann kaufen wir eben morgen ein.«

      Sie boxte mich leicht an den Oberarm, wandte sich ab, ging ins Haus.

      Ich trottete hinter ihr her.

      Die Vorwürfe, die Szenen, die ich so gut kannte, die ich erwartet hatte, blieben aus. Dankbarkeit und Erleichterung durchströmten mich.

      Am nächsten Morgen, wir hatten gerade das Frühstück beendet, legte Thea die abgegriffene Geldbörse meiner Mutter auf den Tisch und öffnete sie. Sie schob das Geschirr zur Seite, schüttete einige Münzen auf den Tisch, zog die EC-Karte aus einem Fach. Quittungen und Belege ließ sie stecken,