"Direkt unter Deiner Nase."
"Oh, entschuldige !", lächelte er verlegen. "Ich habe ..." "Ach, Papa la pap ! Ich bin nun mal klein. War so, ist so und sollte wohl auch so sein." Sie wuselte vor ihm her und hinter die Ladentheke. "Ist alles in Ordnung, Tante Emma?", fragte Paul, weil sie ihm sehr nervös vorkam.
"Einiges ja und einiges nein, wie es eben so ist im Leben." Sie schüttelte den Kopf. "Aber das verstehst Du nicht und wirst es auch nie verstehen." Paul wunderte sich über ihr Verhalten, denn normalerweise konnte sie doch über alles mit ihm reden. Sie schien ernsthafte Probleme zu haben, wenn sie anfing, ihn wie einen dummen Schuljungen zu behandeln. "Warum werde ich es nie verstehen?", fragte er etwas beleidigt. Tante Emma winkte ihm zu, und er beugte sich über die Ladentheke. "Glaub mir, mein Junge", flüsterte sie, "es ist besser, Du weißt nichts von meinen Problemen."
"Ja gut – aber …," setzte er vorsichtig an. Doch sie hob sofort abwehrend ihre Hand, und er schwieg. "Bist ein guter Junge, aber Du würdest es nie verstehen," wiederholte sie seufzend.
"Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein, aber wenn ich Dir irgendwie helfen kann ..."
,,Nein, Du bist nicht aufdringlich, und es ist nett von Dir dass Du mir helfen willst." Sie legte ihre Hand auf die seine und lächelte. "Mach Dir keine Sorgen um mich, ich komm schon klar", flüsterte sie. Paul nickte. "Also mein Junge, was darf`s denn sein?", fragte sie fröhlich und schien wie ausgewechselt. "Ich höre?"
"Zehn Kilo Fleisch", sagte er, ohne groß darüber nachzudenken.
"Was, zehn Kilo Fleisch?", wiederholte sie überrascht und alarmiert zugleich. Paul schüttelte verärgert über sich selbst den Kopf. "Ja, ich hab`s vergessen, Du verkaufst alles – außer Fleisch." Paul überlegte schnell, was er jetzt machen sollte und schaute zu den Regalen. "Dann hast Du bestimmt auch kein Hunde- oder Katzenfutter, stimmt's?"
"Ja, normalerweise verkaufe ich solche Dinge nicht."
"Wie meinst Du das?“, drehte er sich wieder zu ihr um. "Soll das etwa heißen, Du verkaufst doch Fleisch?"
"Nein, tue ich nicht", widersprach sie energisch und sah ihn neugierig an. "Sag mal, wofür brauchst Du zehn Kilo Fleisch, und Hunde- oder Katzenfutter?" Paul fuhr sich nervös durch die Haare. "Nein, ich brauche kein Tierfutter. Ich weiß selbst nicht, wie ich darauf gekommen bin. Aber ich muss unbedingt das Fleisch irgendwo herbekommen."
"Wie mir scheint, hast Du auch ein Problem", sagte sie. "Was willst Du eigentlich mit soviel Fleisch?" wiederholte sie ihre Frage.
"Bitte sei mir nicht böse", sagte Paul, "aber ich ..."
"Ach Du liebe Zeit, bin ich heute wieder neugierig“, unterbrach ihn Tante Emma. "Natürlich bin ich Dir nicht böse, denn es ist ganz alleine Deine Sache was Du mit dem Fleisch vor hast." Dann blickte sie sich um und verschwand hinter einem Vorhang. "Wo willst Du hin?", fragte Paul.
"Bin gleich zurück!", rief Tante Emma, und dann murmelte sie etwas, das Paul nicht verstand. Er sah auf den Vorhang und zuckte mit einem Mal zusammen. War das eben ein Blitz, den er gesehen hatte? "Tante Emma ..." ,"WUSCH!" Der Vorhang wehte zur Seite, und sie stand mit einem großen Paket vor ihm. "Es ... ist … direkt ein Wunder," ächzte sie, "dass ich so ein großes Stück Fleisch überhaupt bei mir habe." Sie wuchtete es auf die Ladentheke und schlug mit der flachen Hand drauf.
"Woher hast Du es denn?", fragte Paul überrascht und erleichtert zugleich.
"Na, na, wer wird denn gleich so neugierig sein?" Paul zog die Augenbrauen hoch, sagte aber kein Wort. "Es ist ganz frisch, habe es erst gestern am späten Nachmittag bekommen. Nur zerkleinern musst Du es selber."
"Kein Problem." Paul griff zu seinem Portmonee. "Was macht das?" Doch Tante Emma reagierte nicht und starrte an ihm vorbei zum Eingang. Unbewusst fiel sein Blick auf einen kleinen Spiegel, der hinter ihr hing und in dem er den Eingang sehen konnte. Eine dunkle Gestalt stand draußen auf der Straße, und Paul spürte, dass sie Ärger machen könnte. Unauffällig blickte er über seine Schulter zum Eingang, doch die Gestalt war plötzlich verschwunden. "Wer war das?“, fragte Paul.
"Du musst jetzt gehen", erwiderte Tante Emma, und ihre Stimme klang auf einmal seltsam fremd.
"Ist alles in Ordnung?"
"Nimm das Fleisch und geh!", wiederholte sie und starrte weiter unablässig auf die Ladentür. Paul schob sich langsam vor sie und versperrte ihr die Sicht. "Ich habe das Fleisch noch nicht bezahlt", sagte er. Tante Emma zuckte kurz, als habe sie eben mit offenen Augen geträumt. Dann zwinkerte sie und bemerkte das Portmonee in seiner Hand. "Ist schon gut, das regeln wir später."
"Und die Gestalt dort draußen?", versuchte er es noch einmal.
"Wer ...?" "Keine Fragen, hörst Du?", fiel sie ihm ins Wort. "Das geht nur mich etwas an." Sie kam hinter der Theke hervor. "Aber, Tante Emma, ich ..."
"Schluss jetzt!" Und ihre Stimme klang unmissverständlich. "Nimm endlich das Paket und geh!" Paul holte tief Luft und griff sich das Paket. Er schaute sie an und sah ein seltsames Funkeln in ihren Augen. "Komm hier entlang", sagte sie und führte ihn hinter die Theke zum Vorhang. "Es ist besser, Du verschwindest durch den Hintereingang." Sie deutete auf eine Tür. "Dort gelangst Du auf den Hinterhof."
"Bekommst Du jetzt etwa Ärger?", fragte Paul besorgt. "Nein, und jetzt lauf schon und blick nicht zurück!" Paul nickte, schulterte das Paket und rannte durch die Tür auf den Hinterhof und weiter auf die Straße. Kein Auto, keine Menschenseele war zu sehen. Nach hundert Metern blieb er stehen und verschnaufte. Er kam sich fast wie ein Dieb auf der Flucht vor. Das Fleischpaket hatte ihn ganz schön außer Atem gebracht. Er schulterte es sich noch einmal ordentlich und ging dann weiter die Straße hinunter. Ein älteres Ehepaar auf der anderen Straßenseite warf ihm einen Blick zu, und er beschleunigte seinen Gang. Jetzt musste er nur noch um die nächste Straßenecke, dann hatte er es geschafft. Mit einem Mal dachte er an den Drachen und rannte das letzte Stück. Hoffentlich kam er noch nicht zu spät. Er lief um die Ecke und starrte auf das Haus. Für einen Moment stockte ihm der Atem. War das etwa Feuer? Doch dann erkannte er, was es war. Das Licht der Sonne spiegelte sich in den Fenstern, und von Feuer und Rauch war nichts zu sehen. Erleichtert ging er auf die Haustür zu, betrat das Treppenhaus und machte sich an den Aufstieg. Seine schweren Schritte waren die einzigen Geräusche, die zu hören waren. Viele Stufen später hatte er sein Ziel erreicht. "Geschafft", stöhnte er leise, als plötzlich stimmen aus seiner Wohnung drangen. Kreidebleich starrte er auf die Tür. Hatte sein Vermieter etwa gewagt, seine Wohnung zu betreten? Zitternd zog er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Kaum hatte er die Wohnung betreten, waren auch die Stimmen verstummt. Paul schloss hinter sich die Tür und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Ganz vorsichtig nahm er das Paket von seiner Schulter herunter und wollte es auf den Boden setzten, als plötzlich die Stubentür aufgerissen wurde. "RUMMS!" Vor Schreck war ihm das Paket aus den Händen geglitten und auf den Boden geknallt. "Da bist Du ja endlich!", schallte ihm die Stimme des Drachen entgegen. Und noch bevor Paul sich von seinem Schreck erholen konnte, hatte sich der Drache schon auf das Fleisch gestürzt. "Was sind das für Stimmen gewesen?", fragte Paul und sah ihm dabei zu, wie er das Fleisch verschlang.
"Hhm, wasch für Schimmen?", nuschelte er schmatzend. "Die ich eben gehört hatte, als ich vor der Tür stand." Der Drache zerrte an dem Fleisch, riss