Verdi will aber doch die Dreizimmerwohnung. Muzio beklagt sich ausführlich über die kleinen Zimmer, „in denen man erstickt“ sowie über die englischen Dienstboten, die „nur Englisch sprechen“ und überdies mürrisch sind. Er berichtet im selben Brief aber auch über die Arbeit:
Wir stehen um 5 Uhr früh auf und arbeiten bis 6 Uhr abends (zur Abendessenszeit); dann gehen wir ein wenig ins Theater und kommen um 11 nach Hause und gehen gleich zu Bett, um früh aufstehen zu können. Die [Arbeit an der] Oper geht voran; zwei Akte sind schon bei den Kopisten und kommenden Montag wird sie vielleicht ganz fertig sein; es bleibt noch die Instrumentation. Ich bin der Meinung – merken Sie gut auf –, daß dies nach dem Ernani die populärste Oper ist, die Verdi gemacht hat, und daß sie am meisten zirkulieren wird.
Im selben Brief (er ist viereinhalb Buchseiten lang) berichtet Muzio auch ausführlich über Jenny Lind.
Ich habe die Lind in der Figlia del reggimento, in der Sonnambula, in Roberto il diavolo gehört, und ich sage Ihnen, daß sie eine Künstlerin in der ganzen Bedeutung des Wortes ist. Sie ist in allen drei genannten Opern großartig. In Roberto il diavolo ist sie unvergleichlich. Ihre Stimme ist in der Höhe ein wenig scharf, in der Tiefe schwach, aber mit viel Übung ist es ihr gelungen, sie in der Höhe geschmeidig zu machen, um die schwierigsten Passagen ausführen zu können. Ihr Triller ist einzigartig; sie singt mit unvergleichlicher Leichtigkeit und um ihre Gesangskunst zu zeigen, ergeht sie sich immer in Verzierungen, in Koloraturen, in Trillern, Sachen, die im vergangenen Jahrhundert gefielen, aber nicht 1847. Wir Italiener sind nicht an dieses Genre gewöhnt; und wenn die Lind nach Italien käme, würde sie diese Manie, die sie für die Verzierungen hat, sein lassen und auf einfache Art und Weise singen, da sie eine ausgeglichene und geschmeidige Stimme hat, um eine Phrase in der Manier der Frezzolini zu singen.[358]
Die „schwedische Nachtigall“ ist keine dramatische, und nur mit Einschränkungen eine lyrische Sängerin: Sie ist ein virtuoser Koloratursopran. Aus Muzios Bemerkungen über ihren unzeitgemäßen Gesangsstil spricht eindeutig Verdi, der einerseits den zum Selbstzweck verkommenen Ziergesang verabscheut, andererseits aber Jenny Lind bewundert. Ungeachtet dessen weisen Verdis Partiturautograph und das Notenmaterial der Sopranistin zahlreiche Änderungen auf, die der Komponist für die Sängerin anbrachte und die ihrem Vortrag entgegenkamen. Dies geschah wohl nicht aus Gefälligkeit einer Berühmtheit gegenüber, sondern deshalb, weil Verdi die Stimme der Sängerin zur Zeit der Komposition nicht aus eigener Wahrnehmung gekannt hatte und ihre stimmlichen Vorzüge erst bei den Proben kennenlernte. So finden sich in der Arie der Amalia „Lo sguardo avea degli angeli“ zahlreiche Verzierungen und Triller, die Verdi nicht sonderlich liebte. Welche zusätzlichen Verzierungen Jenny Lind dann noch bei den Vorstellungen aus eigenem Antrieb anbrachte, ist nicht überliefert.
Muzio hat die berühmte Sängerin genau in Augenschein genommen:
Für morgen ist alles vorbereitet, um die Klavierproben mit allen Sängern zu beginnen; diese sind: (Amalia) die Lind, (Carlo) Gardoni, (Francesco) Coletti, (Massimiliano) Lablache; – ich war schon bei jedem, um die Rollen durchzugehen. Bei der Lind war ich öfter als bei den anderen, nicht wegen der Schwierigkeit der Musik, sondern wegen der Worte, da sie nicht besonders mit dem Italienischen vertraut ist. Ich habe die Lind sehr nett, freundlich, manierlich und höflich gefunden. Sie ist eine vollendete, tief empfindende Musikerin; sie liest jede Gesangsnummer vom Blatt. Ihr Gesicht ist häßlich, ernst und es ist etwas Nordisches darin, das sie in meinen Augen unsympathisch macht; sie hat eine überaus dicke Nase [...], eine nordische Hautfarbe, riesige Hände und ebensolche Füße; ich habe sie mir genau angeschaut, bis ins kleinste, wie man zu sagen pflegt, und so muß man mit allen Berühmtheiten vorgehen – man muß sie genau betrachten. Sie führt ein ganz zurückgezogenes Leben: sie empfängt niemanden (und sie tut gut daran, denn so wird sie keine Unannehmlichkeiten haben); sie lebt für sich; sie haßt, so sagte sie mir, das Theater und die Bühne; sie sagt, daß sie unglücklich ist, und daß sie erst dann Zufriedenheit und ein wenig Freude finden wird, wenn sie nichts mehr mit Theaterleuten und dem Theater an sich zu tun haben wird. Diesbezüglich stimmt sie sehr mit den Meinungen des Maestro überein, der das Theater ebenfalls haßt und es kaum erwarten kann, sich zurückzuziehen.[359]
Abb. 29 – Die Sopranistin Jenny Lind (1820-1887)
J
enny Lind (geborene Johanna Maria Lind, ab 1852 verehelichte Goldschmidt) wurde 1820 in Stockholm geboren. Ab 1829 wurde sie am Stockholmer Konservatorium ausgebildet und debutierte in ihrer Heimatstadt 1838 als Agathe in Webers Freischütz. Im selben Jahr trat sie als Pamina und Euryanthe auf. 1839 fügte sie ihrem Repertoire die Sopranrollen in Spontinis La vestale und Meyerbeers Robert le diable (1839) hinzu, 1840 die Donna Anna und die Lucia di Lammermoor, 1841 Bellinis La straniera und Norma. Als ihre Stimme, speziell in der Mittellage, Anzeichen von Überanstrengung zu zeigen begann, studierte sie nochmals bei Manuel García jr. in Paris, der ihr zuerst eine stimmliche Ruhepause verordnete und dann ihre gesangstechnischen Fehler korrigierte. Die Pariser Opernhäuser zeigten kein Interesse an ihr, weshalb sie später nie in Frankreich auftrat. Bei ihrer Rückkehr nach Stockholm war evident, daß sich die Stimme erholt hatte und ihre Gesangstechnik wesentlich verbessert war. Obwohl ihre Mittellage schwach blieb und verschleiert klang (möglicherweise erzielte sie durch diese Stimmcharakteristik jene „elegische“ Qualität des Vortrags, die immer wieder an ihr gerühmt wurde), war die obere Oktave der Stimme durchschlagskräftig und gleichzeitig virtuos beweglich; ihre Höhe reichte bis g³ (ein Ganzton über dem hohen F der Königin der Nacht).
1842 und 1843 trat sie als Valentine in Les Huguenots, als Ninetta in Rossinis La gazza ladra, als Gräfin Almaviva und als Amina in La sonnambula auf. 1844 baute sie ihr Repertoire mit Rossinis Il turco in Italia, Glucks Armide und Donizettis Anna Bolena aus. In diesem Jahr debutierte sie auf Empfehlung Giacomo Meyerbeers mit sensationellem Erfolg an der Königlichen Oper in Berlin (Norma). Dort sang sie Ende 1844 in dessen Ein Feldlager in Schlesien.
In Wien debutierte sie 1846 als Norma – auch hier war ihr ein triumphaler Erfolg beschieden: sie hatte 30 Hervorrufe, und Franz Grillparzer huldigte ihr in Versen. Als sie die Amina in La sonnambula sang, warf ihr die österreichische Kaiserin ihr Bouquet zu, eine bis dato beispiellose Form begeisterter Zustimmung. Diesen Auftritten folgte eine Deutschland-Tournée (Hamburg, Köln, Koblenz, Leipzig), im Jänner 1847 die Rückkehr nach Wien (La fille du régiment) und Auftritte in Schweden. Im selben Jahr debutierte sie in London am Her Majesty’s Theatre. Ihre Antrittsrolle war die Alice in Robert le diable, im Beisein von Queen Victoria und Prinzgemahl Albert. Danach trat sie in den von Muzio erwähnten Rollen auf. Sie machte ihre Ankündigung wahr: Nach der Masnadieri-Premiere sang sie die Susanna in Le nozze di Figaro, absolvierte 1848 noch eine zweite Saison in London, und verabschiedete sich 1849 im Alter von nur neunundzwanzig Jahren in Stockholm von der Bühne.
Ihr Ruhm als Opernsängerin war geographisch begrenzt (auf Schweden, Deutschland, Wien und London) und auf wenige Partien gegründet, was aber ihrer Leistung keinerlei Abbruch tat. Die „schwedische Nachtigall“ setzte ihre Tätigkeit als Oratorien- und Konzertsängerin fort, wobei sie in ihre Konzertprogramme öfter Opernausschnitte aufnahm. Neben ihren Konzertreisen war sie ständiger Gast bei den großen englischen Musikfestivals und vergleichbaren Veranstaltungen in Deutschland. Auf ihrer großen Tournée durch Nordamerika 1850-52 gab sie über hundert Konzerte, die ihr ein Vermögen eintrugen, dessen Großteil sie der Wohlfahrt spendete (Philanthropie und Religiosität waren ihre hervorstechenden Eigenschaften). Von 1852 bis 1855 lebte sie in Dresden, ab 1856 in England (sie erhielt 1859 die britische Staatsbürgerschaft). Sie pflegte freundschaftliche Kontakte mit Robert und Clara Schumann