Das Gespräch wurde allmählich aufgeschlossener geführt. Man war bei den aktuellen Eindrücken über die hiesigen Verhältnisse angekommen. Karin entwickelte freimütig den Plan von der Autowerkstatt. „Das bringt richtig Geld. Autos gehen immer“, berichtete die Frau von ihrer Sache überzeugt. Volker hatte aufmerksam zugehört und fragte irritiert: „Die Mittel für die Investition kommen aus dem Landverkauf?“ - „Aber ja doch. Das Land kommt weg“, bestätigte die Mutter.
Volker Bruck wollte nicht verstehen: „Ihr verkauft das Land?!“ Mutter und Karin bekräftigten ihre Absicht. „Aber Mutter! Das ist Euer Land. So was verkauft man doch nicht.“ Karin: „Wie denn dann? Wir können es nicht bewirtschaften.“ Volker schlug vor: „Man kann es verpachten. Andere wollen vielleicht Landwirtschaft betreiben.“ Karin sicher: „Hier in dieser Gegend macht niemand mehr auf Landwirtschaft, eventuell ein bisschen Gartenbau.“ Volker bedenklich: „Ihr wolltet doch dieses Land, Mutter.“ Die Alte druckste: „Na ja, schon.“ Volker: „Was gab es für einen Krach wegen der LPG!“ - „Ja, ja, gab es“, pflichtete die Alte bei. Volker suggestiv: „Da behält man doch sein Land, wenn man so viele Jahre drum gekämpft hat.“ - „Wir brauchen doch das Geld“, suchte Karin Verständnis zu erheischen und erreichte genau das Gegenteil.
„Ihr raffgieriges Volk! Geld, Geld, Geld! Als ob es nur darum ginge“, schimpfte sich der Mann in Rage, „Ihr denkt nur an Geld. Gibt es denn für Euch überhaupt keine vernünftigen Werte mehr?“ Er holte tief Luft. Nachdenkliche Pause. Jetzt fiel es ihm wieder ein und er sprudelte weiter: „Übrigens das Diebesgut da oben unterm Dach. Das ist doch bezeichnend für Euch! Wer kam denn auf diesen Einfall, ausgerechnet Bücher zu stehlen?“ Die beiden Frauen machten große Augen. Volker ereiferte sich inquisitorisch: „Konntet ihr Euch nichts anderes unter den Nagel reißen?“ Er brach ab. Mutter und Karin blickten sich ratlos an.
Plötzlich lachte Karin aus vollem Halse. Sie ließ ein befreites, allmählich derb werdendes Lachen erklingen und wollte sich nicht beruhigen. Volker war völlig verblüfft, die Mutter irritiert. Herausfordernd zeigte Karin mit dem Finger auf den Mann: „Du, Fremder! Du hast nichts verstanden. Gar nichts. Du glaubst, die Bücher sind gestohlen?“ Volker nickte, schob die Brille hoch, und sie konstatierte jeden Silbe einzeln betonend: „Wir haben die Bücher gerettet. So liegt das!“
Die alte Bruck und Karin redeten abwechselnd auf den Volker ein: Nach der Währungsunion, besonders nach der deutschen Wiedervereinigung wurden die Bibliotheken der DDR samt und sonders geschliffen. Alles was nur irgendwie nach DDR aussah, flog raus, kam in die Papiermühlen, in die Müllverbrennung oder einfach nur auf Halden und in abgelegene Speicher. Verlage machten dicht oder änderten ihr Programm, Gedrucktes wurde nicht mehr an den Handel ausgeliefert. Mitleidige Bürger gaben den Büchern ein neues Heim. Peter begann damit und Karin setzte es fort. Sie sammelten die Bücher ein und stapelten sie hier unterm Dach. „Mein Bruder und Bücher? Das kann ich gar nicht glauben“, zweifelte Volker Bruck. Mutter: „Doch, doch. Der Peter war im Alter denn doch fürs Lesen zu haben. Nicht unbedingt was Wissenschaftliches, aber Romane auf jeden Fall. Er lobte sich den Lion Feuchtwanger, den Hans Fallada, den Heinrich Mann. Ein Buch hatte Peter alle Male dabei.“ Karin ergänzte: „Manchmal war er stundenlang nicht ansprechbar, dann hatte er ein Buch auszulesen, dessen Ende ihn brennend interessierte.“
Die Gemüter beruhigten sich. Volker Bruck war erstaunt und befremdet. Er fragte: „Was soll mit den Büchern werden?“ Die Frauen wie aus einem Munde: „Wenn Geld aus dem Landverkauf da ist, unterhalten wir hier unsere eigene Bibliothek.“
Karin nahm den vorigen Faden sehr freundlich wieder auf: „Nun, Volker, was hast Du also vor.“ Volker: „Ich würde mich gern in der Gegend umschauen.“ Die Frauen nickten beifällig. „Und den Vater besuchen“, schob er leise nach. Karin spulte geschäftig ab: „Also hast Du den Vormittag für einen Spaziergang, Mittag gibt es pünktlich halb eins, und Nachmittag gegen Abend gehen wir rüber zu Vater ins Pflegeheim.“ Volker zwinkerte der Chefin des Hauses zu und nahm scherzend deren Ton auf: „Okay Boss, so machen wir es!“ Sie lächelten alle drei, erhoben sich, der Volker nahm seinen Mantel und verabschiedete sich von der Mutter: „Bis Mittag, denn!“
In der Haustür erwartete ihn die Karin. Die soeben gewonnene Nähe zerbrach abrupt, weil Karin bestimmte: „Ich gebe Dir die Kira mit. Die passt ein bisschen auf Dich auf und führt Dich sicher wieder heim.“ Volker fuhr hoch: „Bin ich ein Kind?! Wer soll aufpassen?“ Karin pfiff auf zwei Fingern und ein riesiger bärbeißiger Schäferhund schoss um die Ecke. Volker erstarrte augenblicklich. Das Tier legte sich leise winselnd vor Karins Füße und schaute mit treuen Augen zu seiner Herrin auf. Volker hatte noch nie was für Tiere übrig gehabt und für Hunde schon gar nicht. Der hier flößte ihm gehörigen Respekt ein. Karin eindringlich zum Hund: „Kira, das hier ist der Volker. Dein Herr. Pass schön auf!“ Zu Volker: „Gib mir Deine Hand.“ Der schrak zurück. Karin befahl: „Gib mir Deine Hand!“ Er gehorchte blind. Der Hund beschnupperte die Hand des neuen Herrn, winselte verstehend, wedelte vergnügt mit dem Schwanz und setzte sich dem Volker zur Seite. Karin lobte: „Brav so, Kira.“ Volker protestierte: „Ich soll doch nicht etwa mit diesem Hund von Baskerville losziehen! Der bringt mich doch glatt um.“
Karin schüttelte mitleidig den Kopf, seufzte und dozierte dann streng: „Volker, tut mir leid, dass ich das sagen muss: Du bist dumm wie ein Schaf. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist unruhig im Land. Wir haben nicht nur Freunde. Du kommst jetzt vom Hof des LPG-Vorsitzenden Bruck. Du gehörst seit gestern Abend zu uns. Das heißt also, aufpassen!“ Der Mann wirkte verunsichert. Da schmälerte Karin ihre Rede um ein paar Nuancen ab: „Nicht, dass sie hier offen auf uns schießen würden oder so. Das nicht. Aber eine Farbbüchse landet schon mal an der Hauswand, ein Stein fällt unglücklich oder ein Auto streift zu dicht am Gehsteig entlang. Die Kira kann so was nicht gänzlich verhindern. Nein. Aber sie hält mögliche Angreifer gut fern. Die kleinen Attentäter sind nämlich auch feige.“ Volker bei sich: Oh Gott, der wilde Osten! - Zur Karin versöhnlich: „Wenn Du meinst, werde ich das Hündchen eben ausführen.“ - „Macht‘s gut, Ihr beiden“, grüßte die Frau und entfernte sich. Volker schlug den Weg Richtung Felder ein. Der Hund folgte in geringem Abstand.
Volker Bruck lief so lange, bis die Siedlung nur noch als schmale Silhouette ganz hinten zu erkennen war. Er schaute sich um, breitete die Arme aus, atmete tief durch, blickte über den Boden, dann zum Himmel: Von Horizont zu Horizont nichts als Erde, und um diese Jahreszeit kaum Bewuchs. Nur einige Baumreihen mit ihren blattlosen Kronen zogen sich Perlenschnüren gleich an den Feldrainen entlang und verliefen sich in der Ferne. Die Erde hier ist eine riesengroße, flach hingelegte Scheibe, darüber wölbt sich die blaue Himmelskuppel. Die Sonne goss silbrig goldenes Licht aus. Das Land um ihn herum schien ihn schweben zu lassen. Das ist schön, dachte Volker, das ist wunderschön. Ich bin ganz allein im Weltall. Ein leiser Wind ging und verstärkte den Eindruck des Fliegens. Er fühlte sich wohl.
Wenn ich ein Bild malen wollte, träumte der Mann, würde ich es genauso malen. Als Kind hatte er gemalt, es dann aber aufgegeben und sich in späteren Jahren nur noch als Kritiker oder Gutachter mit der Malerei beschäftigt. Wenn ich also ein Bild malen wollte, spürte Bruck seinem Gedanken nach, würde ich dieses flache Land zumindest als Hintergrund wählen. Egal welches Hauptmotiv ich bringe oder wo mein Bild später ausgestellt ist, jeder kann am Hintergrund den Entstehungsort konkret einordnen. Nun ja, jeder Laie vielleicht nicht, aber jeder Fachmann wüsste schon Bescheid. Wenn ich denn malen wollte, träumte Volker