Statt Sicherheitsdebatten wünscht sich der Mitte-Links-Wähler Debatten über die Zukunft des Landes: Wie geht es weiter mit Deutschland? Wie gestalten wir Deutschland gerecht? Was sind Chancen der Digitalisierung, die genutzt werden müssen? Wie sorgen wir dafür, dass Europa nicht auseinanderfällt und Krisen an den Grenzen Europas gelöst werden. Wie werden wir dem demografischen Wandel begegnen? Wie wollen wir Deutschland als Einwanderungsland ausgestalten? Es sind die Facetten der oben gestellten Frage: Wie wollen wir in Zukunft leben?
Statt diese Vision aufzuzeigen, oder zumindest die Frage zu diskutieren, vergeudeten Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum Aufmerksamkeit, indem sie sie der AfD schenken. Sahra Wagenknecht gab ein Doppelinterview mit Frauke Petry und normalisiert damit die AfD. Damit steht sie nicht allein da: Dieter Janecek von den Grünen hat gar für ein TV-Format einen Tag lang Wahlkampf für die AfD gemacht und festgestellt, dass die Grünen und die AfD politisch nicht einer Meinung seien, ihm aber „der Meinungsstreit in der Demokratie wichtig“ sei. Teile der Grünen werden nicht müde, mehr Abschiebungen zu fordern und verwischen damit die Grenzen zur CSU. Und die SPD warnt so heftig vor der AfD, dass sie vergisst aufzuzeigen, was sie selbst mit dem Land vorhat und warum man sie eigentlich wählen sollte (was immerhin besser ist, als die Kanzlerin abwechselnd von rechts und von links anzugreifen, wie das 2016 noch passiert ist).
Damit erreicht man die oben beschriebenen 57% nicht und lässt auch sie politisch heimatlos zurück. Die Mitte-Links-Parteien haben ihre eigene Anhängerschaft demobilisiert. Das erklärt in Teilen auch das vor der Wahl omnipräsente „Ich war noch nie so unsicher, was ich wählen soll.“ Und auch die (zwar gestiegene), aber doch niedriger als erwartete Wahlbeteiligung. Und einigen der 57% dürfte es am 24.9.2017 ebenso ergangen sein wie der oben zitierten Wählerin. Sie haben ihr Kreuz nicht aus politischer Überzeugung gemacht, sondern unter physischen Schmerzen.
Der fantastische Ausblick
Tja, der fällt leider aus, war eher als Teaser gedacht. Was bleibt ist die Hoffnung, dass aus Fehlern gelernt wird. Parteien sollten versuchen erkennbar zu bleiben, basierend auf dem Wertegerüst, das sie ausmacht. CDU und CSU sind konservative Parteien. Und konservative Parteien werden gebraucht.
Es braucht aber eben auch progressive, moderne Parteien, die, bei allen Problemen, die auf uns zukommen werden, Lust auf Zukunft machen, offen diskutieren, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen und mit Mut und Zuversicht, eine Vision von Deutschland zeichnen.
Parteien, die dem Wähler unterschiedliche Ideen anbieten, wie Zukunft gestaltet werden kann. Die uns leidenschaftlich von ihren Ideen überzeugen wollen. Parteien, die Haltung zeigen und Mut beweisen, auch wenn sie damit die eine oder andere Wählerstimme verlieren. Und die nicht uniform nach rechts rücken, nur weil dort gerade am lautesten gebrüllt wird.
Wenn Parteien weiterhin versuchen, es allen recht zu machen, verlieren alle. Und noch viel schlimmer: Es verliert die Demokratie. Denn das ist es doch, was unsere Demokratie ausmacht: Der lustvolle politische Diskurs, das Ringen um die besten Ideen und die leidenschaftliche Überzeugungsarbeit von Politikern mit Ideen für die Zukunft unseres Landes.
1 Fehlende Werte: Weiß nicht.
Nach 27 Jahren deutscher Einheit: vereint und doch gespalten
Prof. Dr. Eckhard Jesse
Bei den Bundestagswahlen sorgte die Alternative für Deutschland (AfD) für einen Paukenschlag, zumal mit ihren fulminanten Ergebnissen im Osten (vgl. Tabelle). Die beiden Volksparteien wurden geradezu „abgestraft“. Dadurch ist die Regierungsbildung erschwert, ein schwarz-gelbes Bündnis unmöglich. Eine „Jamaika“-Koalition stieße in den neuen Bundesländern nicht auf sonderliche Zustimmung.
Tabelle: Wahlverhalten im Wahlgebiet Ost (mit Berlin-Ost) und im Wahlgebiet West (mit Berlin-West) bei der Bundestagswahl 2017 (in Klammern Unterschiede nach Prozentpunkten im Vergleich zu 2013)
Bundestagswahlen 2017 | Gesamt | Ost | West |
CDU/CSU | 33,0 (-8,5) | 27,6 (-10,9) | 34,1 (-8,1) |
SPD | 20,5 (-5,2) | 13,9 (-4,0) | 21,9 (-5,5) |
Alternative für Deutschland | 12,6(+7.9) | 21,9 (+16,0) | 10,7 (+6,2) |
FDP | 10,7(+5,9) | 7,5 (+4,8) | 11,4 (+6,2) |
Die Linke | 9,2 (+0,6) | 17,8 (-4,9) | 7,4 (+1,8) |
Bündnis 90/Die Grünen | 8,9 (+0,5) | 5,0 (-0,1) | 9,8 (+0,6) |
Sonstige | 5,0 (-1,3) | 6,4 (-0,9) | 4,7 (-1,3) |
Quelle: Der Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017, Heft 2: Vorläufige Ergebnisse nach Wahlkreisen, Wiesbaden 2017, S. 326.
Das vereinigte Deutschland ist zusammengewachsen – und doch gespalten. Zusammengewachsen insofern, als sezessionistische Aktivitäten wie in einigen anderen Staaten Europas gänzlich fehlen. Nicht einmal der schärfste Kritiker des Einigungsprozesses sehnt sich nach dem geteilten Land zurück. Gespalten insofern, als Unterschiede 27 Jahre nach der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 trotz hoher Mobilität (deutlich mehr Ostdeutsche sind in den Westen gegangen als umgekehrt, nicht zuletzt junge Frauen) weiterhin ins Auge springen, in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht.
Dieser Befund gilt ebenso für das Wahlverhalten. Der Ausgang der Bundestagswahl 2017 stellt eine Zäsur dar: zum einen wegen des Niedergangs der Volksparteien (beide verloren über 20 Prozent), zum anderen wegen des Aufstiegs der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (12,6 Prozent), deren Stimmenanteil im Osten mehr als doppelt so hoch ausfiel wie im Westen. Fast jeder Vierte hat dort die AfD gewählt, im Westen mehr als jeder Zehnte. In gewisser Weise ist Deutschland dadurch „europäischer“ geworden. Wer Verschiedenheiten benennt, will keineswegs Ressentiments schüren. Italiener würden das hiesige Ausmaß der als milde erachteten Divergenzen gerne akzeptieren.
Wichtige Rolle des Ostens für die Regierungsbildung
Obwohl lediglich etwa jeder sechste Wähler aus den neuen Bundesländern stammt, hat der östliche Landesteil bisher dreimal die Bundestagswahl entschieden. 2002, 2005 und 2013 verhinderte er eine schwarz-gelbe Koalition. Bei einem Votum nur in den alten Bundesländern wäre eine solche Variante das Resultat gewesen. 1990 wählten die Bürger im Osten und Westen jeweils mehrheitlich für Schwarz-Grün. 1994, 1998 und 2009 dominierte der Westen den Osten, es folgte ein schwarz-gelbes Bündnis. Diesmal setzte sich der Westen wieder durch, auch wenn für die Union und die FDP wegen des guten Abschneidens der AfD eine Mehrheit ausblieb. Im Westen erreichte die AfD 10,7 Prozent, die Partei Die Linke 7,4 Prozent. Hingegen kam die AfD im östlichen Landesteil auf sage und schreibe 21,9 Prozent, Die Linke in ihrem „Stammland“ nur auf 17,8 Prozent. Die beiden Volksparteien erzielten im Osten zusammen bloß 41,5 Prozent, im Westen dagegen 56,0 Prozent. Eine ähnliche Bilanz gilt für